„Meersburgs Boden steckt voller Merkwürdigkeiten“ – so titelte der SÜDKURIER in der Ausgabe vom 7. Mai 1956. Anhand der Unterzeile erfuhren die Leser den eigentlichen Kern der Geschichte „Der neuentdeckte unterirdische Gang und sein Geheimnis“. Im Bericht selbst ist zu lesen, dass bei „Bodenaushubarbeiten für die neue Kegelbahn der Winzertrinkstube an der unteren Steige“ ein gewölbter unterirdischer Gang mit kuppelförmiger Decke und geringem Durchmesser entdeckt wurde, der „in mäßiger Steigung zur alten Burg“ hinaufführe. Eine im Artikel abgebildete Zeichnung des Architekten Erich van Meerendonk veranschaulicht den Verlauf des in den Felsen getriebenen Stollens. In früheren Zeiten schien dieser Gang eine Fortsetzung in Richtung See gehabt zu haben, dessen Eingang jedoch später zugemauert wurde. Des Weiteren berichtet der Autor mit dem Kürzel „Dr. K.“, dass unter dem ehemaligen Domkapitelhof, dem heutigen „Hotel zum Schiff“, welcher Ende des 13. Jahrhunderts erbaut wurde, ebenfalls Bögen und Wölbungen von jenem Gang vorhanden waren.

Tag des offenen Denkmals

Zeitzeugin erinnert sich an Tunnel

Margret Meier, ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Kultur und Museum“ der Stadt Meersburg, wuchs im „Hotel zum Schiff“ auf. „Damals gab es hinter dem Buffet im Restaurant eine hölzerne Bodenluke“, erinnert sie sich. Eines Tages, als die Eltern nicht zuhause waren, siegte die Neugierde, was sich wohl dahinter verbarg: Gemeinsam mit einer Freundin öffnete sie verbotenerweise den geheimnisvollen Zugang. Auf den ausgetretenen Sandsteinstufen, die sie vorfanden, stiegen die beiden Mädchen beim Licht einer Kerze und von Zündhölzern zögerlich in die Dunkelheit hinab, um den grob ausgehauenen, fast viereckigen Gang zu erkunden. „Das Herz schlug uns damals bis zum Hals, die Angst vor Ratten und anderem Getier ließ uns nach wenigen Metern umkehren“, berichtet Meier und schmunzelt bei der Erinnerung. „Als 1955 ein Teil des Hotels umgebaut und mit dem hofseitigen Anbau ein Keller hinzukam, wurde der unterirdische Gang zugeschüttet.“

Hinter dem Buffet im Restaurant des Hotels zum Schiff befand sich bis in die 1950er-Jahre eine Bodenluke, die zum geheimen Gang führte, ...
Hinter dem Buffet im Restaurant des Hotels zum Schiff befand sich bis in die 1950er-Jahre eine Bodenluke, die zum geheimen Gang führte, dort wo der Mann ganz rechts steht. Das Foto entstand 1951. | Bild: privat

Heute ist noch ein winziger Ausschnitt zu sehen

Wie es im Innern des historischen Tunnels aussieht, lässt sich in etwa erahnen, wenn man im ehemaligen Pferdestall der Burg Meersburg in einen in den Felsen getriebenen, ausgeleuchteten Stollen hineinblickt. Bei diesem Stollen handelt es sich um eine Querverbindung, deren Ende auf den eigentlichen Gang stößt. Einen winzigen Ausschnitt des Originalgangs können Besucher der Alten Burg vom damaligen Pferdestall aus erspähen, allerdings ist der Zugang mittels Ketten versperrt, der Übertritt zum geheimen Gang ist mit einem Gitter gesichert.

„Alles andere wäre viel zu gefährlich“, erläutert Burgherrin Julia Naeßl-Doms und beantwortet auch gleich die Frage nach dem Sinn und Zweck des unterirdischen Tunnels: „Er wurde im Jahr 1334 wegen einer drohenden Belagerung auf Geheiß des Bischofs Nikolaus von Kenzingen von vierhundert Bergknappen aus dem Erzbergwerk Todtnau in den Felsen getrieben. Tatsächlich führte er damals bis zum See hinunter.“

Unterirdischer Gang diente einst der Versorgung

Zu jener Zeit war die Burg Schauplatz der sogenannten „Bischofsfehde“, in der nach einer Doppelwahl zwei Bischöfe um das Amt des Fürstbischofs kämpften. Nikolaus von Kenzingen verschanzte sich vierzehn Wochen lang in der Burg, die von kaiserlichen Truppen belagert wurde. Durch den verborgenen Gang schmuggelte er Lebensmittel und Munition in die Burg, die mit Booten von Konstanz her über den See geschafft wurden. Nach dreieinhalbmonatiger, ergebnisloser Belagerung zog Kaiser Ludwig der Bayer ab, erkannte aber Nikolaus als Fürstbischof an.

Dort, wo heute die Querverbindung, welche zum Gang führt, beginnt, befand sich zu Zeiten der Belagerung die Wand der Nordbastion, die steil abwärts im Burggraben endete. Bedingt durch den Bau zweier Türme wurde um 1500 der Burggraben auf der Nordseite zugeschüttet, sodass das heutige Niveau entstand. Erst später, 1570, wurde der Stall angebaut. „Die Querverbindung an der Nordbastion ist im 19. oder 20. Jahrhundert in den Felsen gehauen worden. Wahrscheinlich befindet sich der Originalzugang im Innern der Burg“, vermutet die heutige Burgherrin: „Wir haben ihn bisher allerdings noch nicht entdeckt.“ Im Bericht des SÜDKURIER von 1956 ist unter anderem von fünf verfallenen Gängen die Rede, deren Ausgänge unbekannt sind.

Die in der SÜDKURIER-Ausgabe vom 7. Mai 1956 abgebildete Zeichnung des Architekten Erich van Meerendonk veranschaulicht den Verlauf des ...
Die in der SÜDKURIER-Ausgabe vom 7. Mai 1956 abgebildete Zeichnung des Architekten Erich van Meerendonk veranschaulicht den Verlauf des in den Felsen getriebenen Gangs. | Bild: Manuela Klaas

Der verborgene Stollen und seine Geschichte

Das Autorenteam Margret Meier und Peter Schmidt hat noch ein weiteres Detail zum Gang aufgedeckt: Vom 16. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der Unterstadtstraße 3 die Trinkstube „Hecht“ betrieben. Kurz nach der Eröffnung „verhandelte der Hechtwirt Frowenknecht mit dem Domdekan und dem Domkapitel Konstanz in einer höchst geheimen Angelegenheit. Geplant war eine unterirdische Verbindung quer hinüber zu dem großen Gebäude neben dem Unterstadttor. In dem Vertrag wird der Bau des verborgenen Tunnels vereinbart, der vom Haus Hecht in die Unterkunft des Domkapitels (Hotel zum Schiff) führt. „Wahrscheinlich war der Gang die Verlängerung zu dem bereits bestehenden, der sich in der Unterstadtkapelle befindet“, schreiben Meier und Schmidt in dem 2019 erschienenen Buch „Meersburger Trinkstuben und Herbergen“. Darin findet sich auch die Abbildung einer Urkunde vom 28. Juli 1537, ein schriftlicher Nachweis für den verborgenen Stollen. Das Dokument wird im Freiburger Diözesan-Archiv aufbewahrt.