Angriffe auf Kommunalpolitiker und Amtsträger haben in den letzten Monaten zugenommen. Es scheint sich in den sozialen Medien auf kleinstem Gebiet zuweilen so viel Frust anzustauen, der sich in erschreckender und brutaler Weise plötzlich entladen kann. Wie schätzen Sie diese Gemengelage ein?
Ich bin jederzeit bereit, mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen und mir Ihre Ansichten erklären zu lassen. Dazu biete ich regelmäßig Bürgersprechstunden an, es gibt ein Bürgerversammlungen und bei konkreten Projekten veranstalten wir Bürgerinformationsveranstaltungen. Zusätzlich möchte ich das Format der Bürgerlounge zum Herbst diesen Jahres wieder aufnehmen. Als dies sind Gelegenheiten miteinander ins Gespräch zu kommen. Kommunikationsplattformen in sozialen Medien sind dagegen oftmals unmoderierte und anonyme Räume, in denen nicht immer ein sachlicher Umgangston praktiziert wird. Dies ist nicht förderlich für die Suche nach konstruktiven Lösungsansätzen. Körperliche Angriffe oder verbale Beleidigungen gegen Kommunalpolitiker und Amtsträger sind in jedem Fall zu verurteilen und völlig inakzeptabel.

Macht Ihnen ganz persönlich das manchmal Angst?
Nein, Angst habe ich keine. Ich habe die jedoch die Erfahrung gemacht, dass Wachsamkeit wichtig ist. Im Übrigen zeige ich als Dienstherr Drohungen oder tätliche Angriffe gegen Mitarbeitende kompromisslos an.
Oder wie gehen Sie persönlich damit um, und zu welchen möglichen Verhaltungsänderungen führt das?
Ich spreche Wortführer gerne auch mal direkt und aufklärend an, etwa in sozialen Medien. Damit rechnen viele nicht und das Ergebnis ist meist sehr sachlich und konstruktiv. Weiterhin beachte ich Verhaltensempfehlungen zur eigenen Sicherheit.
Sie bewegen sich selbst auf Facebook und haben hier ein Bekenntnis pro Seenotrettung abgegeben. Damit folgen Sie Ihrer Antrittsrede als Oberbürgermeister im Februar 2017, als Sie sich zu den Grundwerten von Menschlichkeit bekannten, die unverhandelbar für Sie seien. Erwächst daraus eine Konsequenz für Ihr politisches Handeln?
Es ist unsere Pflicht, Geflüchtete in unserer Stadt aufzunehmen, dazu stehe ich nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern auch aus persönlicher Überzeugung. Die Stadt Überlingen baut dafür gerade die Anschlussunterkunft auf dem Schättlisberg und ist in Verhandlungen mit dem Landkreis, um Gemeinschaftsunterkünfte für die Anschlussunterbringung übernehmen zu können. Auch die Unterkunft in Goldbach haben wir angemessen saniert und konnten diesen Wohnraum für geflüchtete Personen reaktivieren. Darüber hinaus haben wir ein tolles Netzwerk an Flüchtlingshelfern in der Stadt, die äußerst engagiert unseren neuen Mitbürgern bei der Integration helfen. Besonders freut mich, dass auch der Gemeinderat dieses Engagement vollumfänglich unterstützt und die Arbeit des Sachgebiets Integration weiter fördern möchte.
Es gibt die 50 Städte, die sich zu einem „sicheren Hafen“ erklären und über ihre Kontingente hinaus Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen signalisieren. Wenn Überlingen es schafft, die geforderte Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen, sehen Sie dann die Kapazität für die Aufnahme weiterer Flüchtlinge?
Zunächst müssen wir unsere vom Landkreis auferlegte Pflichtquote bei der Übernahme von Geflüchteten aus der Gemeinschaftsunterbringung in die Anschlussunterbringung erfüllen. Dies werden wir vermutlich Ende des Jahres hinbekommen. Darüber hinaus halte ich eine begrenzte Aufnahme weiterer Flüchtlinge entsprechend unserer Kapazitäten für denkbar.
Auf den Punkt gefragt: Würden Sie Überlingen gerne zu einem „sicheren Hafen“ für Flüchtlinge erklären?
Aufgrund unserer durchdachten dezentralen Unterbringung, der Integrationsbegleitung bzw. der zahlreichen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten, erachte ich Überlingen schon jetzt als „sicheren Hafen“ für Geflüchtete. Wir brauchen nicht unbedingt ein „Label“, um unserer menschlichen Verantwortung für Geflüchtete nachzukommen und werden weiterhin im Rahmen unserer Aufnahmekapazitäten alles Erdenkliche für eine gelungene und verträgliche Integration tun – wenn es sein muss, auch über die bloße Erfüllung unserer Pflicht hinaus. Dies kann jedoch nur durch gemeinderätlichen Beschluss erfolgen. Überlingen ist eine weltoffene Stadt und ich bin überzeugt, sie wird sich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten menschenverachtenden Positionen auf internationaler Ebene entgegenstellen.
Ein Zitat aus unserem Interview am Jahresende 2018. Sie drückten Ihren „Ärger“ darüber aus, dass das Verkehrsleitsystem noch nicht steht und sagten, ich zitiere: „Ich lege großen Wert darauf, dass wir es bis Ostern haben, weil wir es dringend brauchen.“ Ostern ist nun auch schon ein paar Tage vorbei und noch nichts ist Sicht. Was sagen Sie den Leuten?
Ich teile diesen Ärger mit vielen Bürgerinnen und Bürgern, möchte aber auch zu bedenken geben, dass die Kollegen des Tiefbaus für den weiteren Projektfortschritt von zahlreichen Dritten abhängig sind. Dies führte zu längeren Abstimmungs- und Koordinationsprozessen, auch mit übergeordneten Behörden. Die gute Nachricht ist jedoch, erste Fundamente stehen!
Ich könnte nun auch aus früheren Interviews zitieren, in denen Sie von der Vision einer zumindest temporär verkehrsfreien Innenstadt sprachen. Sagen Sie nun nicht, wir seien auf einem guten Weg dahin, sondern beantworten folgende Frage bitte nur mit Ja oder Nein. Wollen Sie eine zumindest zeitweise verkehrsfreie Innenstadt?
Ja!
Und jetzt: Wie sehen konkret die nächsten Schritte in der Verkehrsentwicklung aus, nachdem die Hafenstraße bald nur noch für Anwohner befahrbar ist – was sie wegen einer Baustelle dort ja ohnehin jetzt schon ist.
Dies wird Gegenstand der gemeinderätlichen Beratung mit dem neuen Gemeinderat sein. An dieser Stelle darf ich noch einmal an meine Aussage zu den nächsten Schritten erinnern: Sobald wir eine Lösung für die Hafenstraße gefunden haben, müssen wir die die nächsten Schritte zur Verkehrsentwicklung im Gemeinderat diskutieren. Unumgänglich ist für mich konkret die bodengleiche Anpassung von Gehsteigen und Fahrbahn in der Jakob-Kessenring-Straße. Nur so wird es meiner Ansicht nach gelingen, Fußgängern und Radfahrern mehr Raum zuzuweisen und die wichtige Ost-West-Achse für Radfahrer durch die Stadt hinzubekommen. Ich hoffe, der Gemeinderat wird sich dieser Auffassung anschließen.
Wenn man sich die Anstrengungen für Motorradparkplätze ansieht, könnte man meinen, die knarrenden Motorräder seien Ihnen lieber als die Fahrräder. Trifft dieser Eindruck zu?
Sicher nicht. Mir liegen die Fahrradfahrer unserer Stadt sehr am Herzen. Erst vor kurzem bin ich mit dem ADFC und dem Südkurier auf dem Rad durch die Stadt gefahren und habe mir sowohl gelungene als auch verbesserungswürdige Verkehrspunkte für Fahrradfahrer angeschaut. Daraufhin hat die Abteilung Tiefbau in Abstimmung mit dem ADFC eine Prioritätenliste zur Verbesserung der Radwegsituation erarbeitet. Unmittelbar bevor steht nun die Markierung des Fahrradstreifens in der Wiestorstraße. Der Anlass hierfür war der Fahrradklimatest des ADFC, eine solche Bereitschaft zur umfassenden Zusammenarbeit mit dem ADFC kenne ich aus anderen Kommunen nicht. Ich bitte jedoch zu bedenken, dass wir auch Motorradfahrer diskriminierungsfrei in die Stadt einfahren lassen müssen – infolgedessen Bedarf es eben auch geeigneter Stellplätze.
Wie Sie wissen, sitze ich derzeit öfter mit Überlingern auf der roten Bank am Mantelhafen zusammen und frage nach Anregungen. Von Carl Fahr kam die, wie ich meine, gute Idee, die Motorräder zwischen altem Wasserkraftwerk und Post bereitzustellen, dort, wo derzeit Baucontainer stehen. Was halten Sie davon?
Als Verwaltung können wir dem zuständigen Gremium lediglich Vorschläge machen. Den nun beratenen Standort halte ich für eine gangbare Lösung, zumal dieser das Ergebnis einer intensiven Diskussion ist. Der Vorschlag von Herrn Fahr verkennt, dass der benannte Bereich vornehmlich Fußgängern vorbehalten ist und unmittelbar den Fußgänger-Zugang zum Parkhaus „Post“ betrifft. Hier sehe ich Gefahrenpotenzial.
Eine Art „Rote Bank“ für den OB, wo die Bürger niederschwellig direkt Ihnen ihre Anliegen vorbringen können, gibt es ja gelegentlich mit der Bürgersprechstunde. Niederschwellig ist auch die Beschwerdestelle im Internet, wo ich unkompliziert auf der Seite der Stadt meine Anregungen und Wünsche los werden kann. Haben Sie einen guten Überblick über das, was hier so eingeht?
Die Beschwerdestelle ist OB-Angelegenheit! Dort eingehende Mails landen direkt bei mir in meinem Postfach und werden möglichst zeitnah, zum Teil auch direkt aus dem betroffenen Fachbereich, beantwortet.
Werden Sie hier mit Anregungen bombardiert, was wird da so vorgebracht?
Die Anfragen sind ganz unterschiedlicher Natur und enthalten Meinungen zu öffentlichen Projekten in der Stadt, als auch Ausführungen zu persönlichen Konfliktsituationen. Leider muss ich als Behördenleiter oft auch auf die fehlende Zuständigkeit der Stadt Überlingen hinweisen, insbesondere in Belangen der Deutschen Bahn.
Und wie gut sind Sie im Abarbeiten dieser Wünsche?
Natürlich können nicht alle Einzelinteressen berücksichtigt werden, dennoch werden alle Wünsche entgegengenommen und entsprechend hausintern geprüft.
Zweieinhalb Jahre nach Amtsantritt, wie nahbar kann ein Oberbürgermeister da noch sein, wo sich die Ämter – jetzt auch Kreistag – und die Aufgaben immer mehr häufen?
Oberbürgermeister zu sein ist für mich die schönste Aufgabe überhaupt. Trotz meines vollen Terminkalenders habe ich ein offenes Ohr für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und bin ansprechbar. Gelegenheit dazu bieten natürlich die bereits angesprochene Bürgersprechstunde, Bürgerlounge oder die Beschwerdestelle. Aber auch persönlich bin ich viel in der Stadt unterwegs und komme mit den Menschen ins Gespräch, sei es auf dem Weg zu Terminen, auf Vereinsfesten, bei Jubilaren oder zahlreichen Veranstaltungen.
Neuer Gemeinderat, neues Glück? Oder wie würden Sie die Zusammensetzung des neuen Gremiums mit einem Satz skizzieren?
Ich freue mich auf eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem neuen Gemeinderat zum Wohle unserer Stadt.
Nächstes Jahr, das Mega-Jahr 2020: Da haben Sie sich selbst eine Urlaubssperre verhängt. Weil Sie keine Zeit haben, in die Welt zu reisen, oder weil die Welt 2020 nach Überlingen kommt?
2020 wird ein intensives und spannendes Jahr. Ich bin davon überzeugt, dass wir danach zurückblicken werden und mit Stolz sagen können, dass sich unsere Stadt bestmöglich präsentiert hat. Und dafür verschiebe ich gerne meinen Urlaub, um die „Welt“ in Überlingen zu empfangen. Nicht ganz uneigennützig, denn ich gebe gerne zu, dass mich zahlreiche Veranstaltungen und Ereignisse auch persönlich sehr interessieren. Da muss man einfach dabei sein!
Nun steht Ihr Urlaub an: Angesichts des Arbeitspensums in den letzten Wochen und Monaten, für wie urlaubsreif halten Sie sich?
Als Oberbürgermeister ist man wohl nie richtig im Urlaub, auch wenn man so urlaubsreif wie ich momentan ist. Aber es wird für ein paar Tage zumindest etwas ruhiger werden und eine kleine Verschnaufpause vor unserem Mega-Jahr 2020 tut sicherlich gut.
Welche Gedanken möchten Sie im Urlaub einfach mal zur Seite schieben können?
Den Kampf gegen die prognostizierte Ankunftszeiten des Navigationssystems bei Auswärtsterminen werde ich wohl am wenigsten vermissen.
Haben Sie einen Tipp, wie es gut gelingt, von Vollgas im Job auf Erholung im Urlaub umzustellen?
Langsame Anreise mit viel Zeit an den Urlaubsort. Vor Ort dann dem ständigen Drängen lieber Mitreisender (bei mir meine Frau Annette) nach ausgedehnten Wandertouren nachgeben – die tuen mir nämlich richtig gut! Ich wünsche allen schöne Ferien und gute Erholung – ob in unserer wunderschönen Stadt oder in weiter Ferne.
Zur Person
Jan Zeitler, 1970 in Dortmund geboren, in Ludwigsburg aufgewachsen, studierte an den Universitäten Bayreuth und Konstanz Rechts- und Verwaltungswissenschaften und schloss sein Studium als Diplom-Verwaltungswissenschaftler ab. Er wurde am 27. November 2016 mit 50,1 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang zum Oberbürgermeister von Überlingen gewählt. Zuvor war Zeitler Bürgermeister in Horb. Er ist verheiratet mit Annette Stoll-Zeitler, Fachbereichsleiterin bei der Landesgartenschau GmbH Überlingen. (shi)