McMurphy ist tot. Der Arm zuckt ein letztes Mal und fällt zur Seite, bevor sein Freund aus dem Irrenhaus ausbrechen und den Traum der Freiheit an der Stelle des Toten leben wird. Die etwa 500 Zuschauer des Theaterstücks "Einer flog über das Kuckucksnest" erheben sich nach dieser letzten Szene von ihren Plätzen – minutenlanger Applaus würdigt die Leistung der 12. Klasse der Waldorfschule.
Vier Wochen Theater statt Unterricht
Innerhalb von vier Wochen, in denen allerdings kein regulärer Unterricht stattfand, bereiteten die Schüler das etwa 90-minütige Klassenspiel vor. Vom Kulissenbau über Beleuchtung und Ton bis hin zum Programmheft übernahmen die Jugendlichen die Verantwortung für die Aufführung. Regie führte Nikolaus Okonkwo. Der studierte Waldorfpädagoge und Regisseur hat sich auch als Schauspieler einen Namen gemacht.
Schon die Erstklässler üben sich im Theaterspiel
Okonkwo ließ den Schülern Raum, ihre eigenen Ideen zur Inszenierung zu verwirklichen und die Rollen mitzugestalten. Eine Methode mit System, wie Karlheinz Noll, der Tutor der Klasse, berichtet. Es gehe beim Theaterspielen, das in der Waldorfschule ab der ersten Klasse praktiziert wird, um die Schulung der wichtigsten sozialen Kompetenz, der Empathie. Eine fremde Rolle mit all ihren Besonderheiten und Schwächen müsse verstanden und angenommen werden. Wie Noll erklärt, erfahren die Schüler dabei, dass sie mit ihren eigenen Sorgen und Nöten nicht allein sind.
Erstes großes Klassenspiel schon in der 8. Klasse
Diesem Prozess der Gewissensbildung werde beim ersten großen Klassenspiel in der 8. Klasse auf eine andere Art Rechnung getragen. Hier geht es noch primär um die Arbeit an der Sprache, also Gestik, Mimik und Intonation. In diesem Alter müssen die Schüler eine Rolle noch weniger interpretiert, als vielmehr kopieren und annehmen, sagt Noll. Der Regisseur mache hier klare Vorgaben, die es umzusetzen gelte.
Aufführung der Zwölftklässler markiert Abschied von der Schule
Ganz anders dann in der 12. Klasse; hier ist das zweite große Theaterstück in der Schulzeit eines Waldorfschülers angesiedelt. Dieses markiert den Abschied von der Schule und will ein identitätsstiftendes Ereignis für den Einzelnen an der Schwelle zum Erwachsenenleben sein. Der Schwerpunkt liegt hier, erklärt Karlheinz Noll, im Übernehmen von Verantwortung und dem gemeinsamen Entwickeln des Theaterprojektes.
Alle Akteure sind aufeinander angewiesen
Die Schüler merkten dadurch, dass sie selbst in ihrem Handeln bedeutsam, aber auch auf die anderen angewiesen seien. Denn wenn ein anderer in seiner Tätigkeit ein Problem habe, sei damit möglicherweise das gesamte Projekt beeinträchtigt. Es komme nicht nur darauf an, betont Karlheinz Noll, das zu lernen, womit man sich ohnehin gerne beschäftigt, sondern dass das Lernen auch mit Überwindung zu tun hat, nämlich etwas zu wagen, von dem man nicht sicher ist, ob es gelingt. Wenn man das allerdings geschafft habe, dann wachse auch die Persönlichkeit.
Klassengemeinschaft wächst durch tägliche Proben
Sichtlich gewachsen sind auch die Darsteller und Beteiligten von "Einer flog über das Kuckucksnest". Oliver Lang Fouquet beispielsweise, der die Rolle des Indianers spielte, betonte, dass besonders die Klassengemeinschaft durch das tägliche Proben deutlich gewachsen sei. "Ich habe mich dann richtig darauf gefreut, in dem Scheinwerferlicht alles zu geben." Franka Beck hatte neben einer kleineren Rolle auch die Regieassistenz inne: "Toll, dass man uns einfach hat machen lassen, ohne alles vorzugeben." Nick Blickle war einer der doppelt besetzten Hauptdarsteller: "Ich hatte in der 8. Klasse eine deutlich kleinere Rolle und mir vorgenommen, jetzt eine große Rolle zu spielen. Ich bin froh, dass ich den Mut dazu hatte."
Das Theaterstück
"Einer flog über das Kuckucksnest" von Ken Kesey wurde vor allem durch seine Verfilmung mit Jack Nicholson bekannt: Der zwangseingewiesene Neuzugang Randle McMurphy freut sich, durch seinen Aufenthalt in der Psychiatrie der Justiz ein Schnippchen geschlagen zu haben. Schnell mischt er den langweiligen Alltag der Patienten gründlich auf. Für diese, die sich im normalen Leben von der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlten, ist die geschlossene Psychiatrie ein Rückzugsort. Durch McMurphys rebellische Handlungen gewinnen sie an Selbstbewusstsein. Bald merkt McMurphy allerdings, dass seine Vorstellungen, sich sein Leben hier angenehm zu gestalten, auf den Widerstand des Kliniksystems treffen. Ein Machtkampf ist die Folge, an dessen Ende McMurphy durch einen operativen Eingriff am Gehirn ruhiggestellt wird. Sein Freund, ein Insasse, der "Häuptling" genannt wird, bringt als Gnadenakt den hirntoten McMurphy um und verwirklicht an dessen Stelle dessen Fluchtpläne.

Die Schüler der 12. Klasse schreiben, dass sie sich für dieses Stück entschieden hatten, "da uns die Thematik des Stücks mitgerissen hat und die Kontroverse von Komik und Tragik in dem Stück begeistert. Uns war es bei der Stückwahl vor allem wichtig, dass das Stück eine Aussage hat, welche nicht sofort eindeutig ist, sondern die Menschen zum Nachdenken und Hinterfragen bringt."