Dienstagmorgen, 8.30 Uhr, im Amtsgericht in Überlingen: Eigentlich sollte in dieser Minute die Verhandlung gegen einen 36-Jährigen wegen vorsätzlichen Handelns mit Cannabis beginnen. Doch von dem Angeklagten fehlt jede Spur. Weder für das Gericht noch für den Verteidiger ist der Mann telefonisch erreichbar. Amtsrichter von Kennel bittet schließlich die Polizei, den Angeklagten zu Hause abzuholen. Die Beamten werden ihn allerdings nicht an seiner Wohnanschrift antreffen.

Stattdessen taucht der 36-Jährige nach Rückmeldung bei der Kanzlei seines Anwalts sehr verspätet auf. Der Mann hatte zwei Ladungen erhalten – für den ersten Verhandlungstag und einen am Ende nicht mehr nötigen Fortsetzungstermin. Nach eigenen Angaben dachte er, dass sich mit dem zweiten das erste Schreiben erledigt hatte. Ein Missverständnis aufgrund der Sprachbarriere, wie der Iraner erklärt. In der Verhandlung spricht ein Übersetzer für ihn.

Die Staatsanwältin legt ihm zur Last, zwischen Ende 2022 und September 2023 aus einer Asylbewerberunterkunft im westlichen Bodenseekreis heraus einen Handel mit Cannabis betrieben zu haben. „Er besaß nicht die für den Handel von Cannabis benötigte Erlaubnis.“ Die Rede ist von „32 selbstständigen Handlungen“, in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlichem Erwerb von Cannabis. Meist soll er Kleinstmengen abgegeben haben, aber auch Cannabis „in nicht geringer Menge“ (mehr als 25 Gramm) besessen haben.

Ohne Pass gibt es keine Arbeitserlaubnis

Über seinen Dolmetscher lässt der 36-Jährige wissen, dass er alle Vorwürfe bestreitet. Die Handys, die vor Gericht vorliegen, sind angeblich nicht seine. Sie sollen einem Mitbewohner gehören, der Ende September 2023 abgeschoben wurde. „Ich durfte sie zweimal am Tag benutzen.“ Etwa, um mit seiner Familie im Iran zu telefonieren. Der Angeklagte ist seit 2017 in der Bundesrepublik. Er hat in seiner Heimat Elektrotechnik studiert und abgeschlossen. „Aufgrund meiner Meinungen und meines Glaubens hatte ich Probleme im Iran“, berichtet er. Anfangs arbeitete er in Deutschland. Da er aber keinen Pass vorlegen konnte, verlor er vor fast zwei Jahren seine Arbeitserlaubnis. Weil die Bundesregierung die iranischen Konsulate hat schließen lassen, müsste der 36-Jährige in die Botschaft nach Berlin. Doch er hat Angst. „Der Iran ist ein diktatorisches System. Ich möchte da nicht hin.“

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Der Geflüchtete möchte in Deutschland bleiben. Jedoch wurde sein Asylantrag abgelehnt. Er ist nur noch geduldet. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält er 400 Euro pro Monat. „Den ganzen Tag gucke ich an die Wände. Nachts kann ich nicht schlafen“, erklärt der Angeklagte. Er bekomme Medikamente gegen Depressionen. Der 36-Jährige hat keine Kinder und lediglich geringfügig Schulden. Zwei Vorstrafen finden sich im Bundeszentralregister – wegen Diebstahl und Aufenthalt ohne Pass. Richter Alexander von Kennel fragt: „Wenn wir einen Urintest machen würden: Was würden wir finden?“ Cannabis und Alkohol, antwortet der Angeklagte. Das Elend steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Seine Schutzbehauptungen werden sich nicht halten lassen. Einerseits können die Juristen auf Protokolle aus polizeilichen Vernehmungen zurückgreifen. Andererseits werden vor Gericht Zeugen gehört, die angeben, mit dem 36-Jährigen konsumiert und/oder von ihm Cannabis erhalten zu haben. Interessenten kamen den Schilderungen nach in die Asylbewerberunterkunft. Immer zwei Gramm für den Eigenbedarf habe er gekauft, sagt ein 28-jähriger, kaufmännischer Mitarbeiter. „Es war zimmermäßig. Wenn bei dem einen nichts da war, ist man zum anderen.“ Das Cannabis habe er vakuumiert oder in Gläsern in einem Schrank gelagert. Vorab kommuniziert wurde per WhatsApp oder anderem Messenger. Ob der Angeklagte oder der Mitbewohner auf Anfragen geantwortet hat? „Ich hatte den Eindruck, dass er Bescheid wusste“, sagt der junge Mann über den Angeklagten.

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Zeuge identifiziert Stimme des Angeklagten

Ein 28-jähriger Automechaniker und Metzger behauptet zunächst, nie etwas gekauft oder bekommen zu haben. Durch WhatsApp-Nachrichten kann er jedoch als Helfer identifiziert werden. „Wir sind Freunde“, sagt der 28-Jährige und blickt betroffen zum 36-jährigen Angeklagten. Er bestätigt, dass es sich in Sprachnachrichten, die ihm im Gerichtssaal vorgespielt werden, um die Stimme des Iraners handelt. Dieser kann selbst nicht anders, als zu nicken, und räumt einen Teil der Vorwürfe ein.

Er legt dar, mit dem Mitbewohner zusammengearbeitet zu haben. „Für ihn habe ich Nachrichten geschickt, aber selbst nicht Drogen gekauft.“ Er will sich mehr als Helfer, denn als Geschäftspartner präsentieren. Seine Entlohnung sei Cannabis zum Eigenkonsum gewesen. „Er hat in seinen Vernehmungen immer versucht, sich als Beiwerk darzustellen“, bekräftigt eine Polizeihauptkommissarin. Aber: „Er hat nicht nur ein bisschen Gras gekriegt.“

Staatsanwältin sieht zumindest Mittäterschaft

Richter, Staatsanwältin und Verteidiger debattieren, welche der „32 Handlungen“ zu bestrafen sind. 20 der Fälle werden nicht eingestellt. „Die Beweisaufnahme und das Geständnis haben zumindest eine Mittäterschaft nachgewiesen“, sagt die Staatsanwältin. Der Mitbewohner sei nicht mehr greifbar. Die Zeugen hätten Käufe und Verkäufe bestätigt. Der Verteidiger will gewürdigt wissen, dass sein Mandant die Handys selbst zur Staatsanwaltschaft getragen hat. Nach Abschluss der Ermittlungen hatte er sie wiederbekommen. „Dass er freiwillig oder unfreiwillig Tataufklärung geleistet hat, passt nicht in den Täterkreis“, sagt der Jurist. Der 36-Jährige habe für den Mitbewohner das Risiko gestreut.

Richter Alexander von Kennel verurteilt ihn letztlich zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre. Er muss 200 Arbeitsstunden leisten und „sich nach besten Kräften um die Erlangung eines Reisepasses bemühen“. Außerdem hat er sechs Termine bei einer Suchtberatung zu absolvieren. Der Richter sieht es als erwiesen an, dass der 36-Jährige mehr als nur der Handlanger war. Einigkeit herrscht darüber, dass seine Zukunftsperspektive nicht rosig ist. „Er macht nicht wirklich was, ist finanziell abhängig. Da sehe ich schnell wieder Taten am Horizont“, sagt von Kennel. Die Bewährung sieht er als große Chance. „Nutzen Sie sie“, rät er.