„Alkoholismus ist eine lebenslange Krankheit, die nur durch absolute Abstinenz zum Stillstand gebracht werden kann“, sagt Sandra, „bis zum Lebensende bleibe ich Alkoholiker – das ist keine Krankheit, die man besiegst, indem du sagst: Punkt, heute werde ich trocken!“ Das in die Öffentlichkeit zu kommunizieren, wenn über das 50-jährige Bestehen der „Überlinger Selbsthilfegruppe für Alkoholabhängige und deren Angehörige“ berichtet wird, ist Sandra wichtig. Die wöchentlichen Gruppentreffen sind zum festen Bestandteil ihres Lebens geworden.

Ein Raum im Obergeschoss des Überlinger Pfarrzentrums, die Stühle stehen im Kreis. Rund ein Dutzend der derzeit 22 Mitglieder sind an diesem Montag dabei. Die Teilnehmerzahl bewege sich zwischen 8 und 16, erklärt Franz Ege. Er leitet die Selbsthilfegruppe seit 1999, damals übernahm er diese Funktion von Fritz Martin. Als Betroffener hatte er die Gruppe gemeinsam mit dem Sozialarbeiter Manfred Vonbach 1975 ins Leben gerufen. Als Gründer Fritz Martin 2022 starb, war dieser 50 Jahre trocken. „Das nötigt einem schon Respekt ab“, meint Franz Ege, der allerdings auch schon vor 37 Jahren seinen letzten Tropfen Alkohol getrunken hat.

Es gibt viele Wege aus der Sucht

Ege ging den Weg durch die Therapie, um sich vom Alkohol zu befreien. Als seinen Stellvertreter wollte er Hugo Maier, der nur durch Gruppenbesuch trocken wurde. „Mir war wichtig, dass die Leute, die neu kommen, auch an unseren Beispielen sehen, dass man es auf verschiedenen Wegen schaffen kann“, sagt Ege. Allerdings habe er „wahnsinnig viel Unterstützung“ von seiner Frau gehabt, so Maier, „meine ganze Familie war mit einbezogen“.

Die Suchttherapie verfüge inzwischen über ein breites Spektrum an Therapieangeboten, vom stationären Aufenthalt über Tageskliniken bis hin zu ambulanten Therapieformen – unterstützt durch ein enges Netzwerk an Selbsthilfeangeboten. Michael etwa ergänzte seine stationäre Therapie im ZfP Weissenau durch zwei Jahre Gruppentherapie bei der Diakonie in Friedrichshafen. Gleichzeitig kam er im Juni 2021 in die Überlinger Selbsthilfegruppe. „Das war für mich gut, diese zwei Termine wöchentlich zu haben, nach Beendigung der ambulanten Therapie erlebe ich nun unsere Gruppe als Säule im Lebensalltag!“

Für den Raum, in dem sich die Selbsthilfegruppe jeden Montag trifft, verlangt die katholische Münstergemeinde nichts. Eine kritische Anmerkung der Selbsthilfegruppe dazu: „Es ist zu bedauern, dass seitens der Stadt Überlingen aktuell und in den vergangenen Jahrzehnten keine geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt worden sind.“

Nach zwei Rückfällen hat er es geschafft

Auch Gustav sagt, „ich bin durch die Gruppe und meine Frau vom Alkohol weggekommen, vor allem meiner Frau verdanke ich das“. Ingrid begleitet ihn als Ehefrau regelmäßig in die Gruppe. Sie sitzt neben ihm. „Es war nicht so einfach“, ergänzt sie. „Er ist mindestens zweimal rückfällig geworden, bis er es endlich geschafft hat.“ Heute ist Gustav so stabil, dass er Gästen Sekt ausschenkt und selbst Sprudel trinkt.

Auch Menschen, die von Medikamenten abhängig geworden sind, haben in der Gruppe ein Zuhause. Etwa Anne, die Schlafmittel missbrauchte. „Medikamente sind eine versteckte Sucht, die seltener zur Sprache kommt. Sie fällt auch nicht so auf wie wenn jetzt jemand eine Fahne hat oder in größerer Runde sitzt und trinkt.“ Michael Moravek beobachtet auch in der Beratungsstelle, dass Medikamente leicht und unkritisch verschrieben werden. „Das ist teilweise hochdramatisch, gerade auch bei jungen Leuten, die dann nur diese Sucht entwickeln.“

„Bei uns gibt es viele Geschichten“, wirft Sandra ein. Franz und Hugo seien Menschen, die es beim ersten Mal geschafft hätten. Bei ihr und vielen anderen Betroffenen sei es anders gewesen. „Seit über 20 Jahren ist die Gruppe für mich ein ganz wichtiger Prozessbegleiter – ich bin jetzt aktuell leider erst seit zwei Jahren wieder trocken.“ Sandra hatte einen Rückfall gehabt. Nach siebeneinhalb Jahren „glücklicher Abstinenz“, wie sie beschreibt. Sie machte erneut eine Therapie, aber auch während dieser Zeit sei die Gruppe „so ein wöchentlicher Fels in der Brandung“ gewesen, habe sie aufgefangen.

Unzufrieden und zufrieden abstinent

„Die eine Woche Entzug, nachdem man lange gesoffen hat, man zittert, flattert, Krampfanfälle hat, das ist der körperliche Entzug“, beschreibt Sandra. „Ich unterscheide mehr zwischen unzufrieden und zufrieden abstinent als zwischen nass und trocken – solange der Alkohol noch im Kopf ist, ist das die Hölle, da hat man Suchtdruck.“ Denn nachdem man aus der Entzugsklinik draußen ist, gelte es, die Werkzeuge, die man in der Therapie gelernt habe, im täglichen Leben anzuwenden. Sie sei lange Zeit nur in Begleitung ihres Sohnes einkaufen gegangen. Weil sie Angst gehabt hätte, Alkohol zu kaufen. Das sei der Zustand, den sie „unzufrieden abstinent“ nennt und den man nur durch einen „unheimlich harten Kampf“ überwinde. „Ich habe Hochachtung vor jedem, der sich da durchkämpft, bei mir ging das Monate, bis ich wieder zufrieden abstinent war.“ Sie habe diesen Luxus dank der Gruppe, dank ihrer Familie, ihrer Therapeutin und aus eigener Kraft. Im Zustand der unzufriedenen Abstinenz blieb mir nur übrig, mich abzuschotten.“ Niemals aber dürfe man leichtsinnig werden. Auch im Essen lauert die Gefahr: Denn Alkohol verdampft beim Kochen nicht vollständig.

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„Hier fühle ich mich aufgehoben“

„Was Sandra sagt, kann ich nur bestätigen“, meint Solveig, die kurz nach Ostern 2023 aus einer stationären Therapie in die Gruppe kam. „Am 21. März 2023 bin ich zum Entzug ins ZfP Weissenau.“ Auf Rat ihrer dortigen Therapeutin wandte sie sich noch aus der Klinik heraus an die Selbsthilfegruppe und telefonierte mit Franz Ege. Sie habe verstanden, dass sie dauerhaft etwas ändern müsse. „Ich hatte natürlich Alkohol schon in frühester Jugend getrunken.“ Obwohl Solveig erst knapp zwei Jahre dabei ist, leitet sie bereits Gruppenabende. „Hier kann ich frei reden, offen reden, hier fühle ich mich aufgehoben.“ Das ist es, was ihr Halt gibt.

„Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass ich wöchentlich hier herkomme, hätte ich gesagt, Du spinnst!“ Erika hat einen langen Weg weg vom Alkohol hinter sich, machte Entzug im ZfP Reichenau, war dann lange in der Fachklinik „Höchsten“ in Saulgau und danach in der Tagesreha. Überall empfahl man ihr, dauerhaft Halt in einer Gruppe zu suchen. „Franz Ege kannte mein Problem schon, bevor ich in die Rehaklinik ging und er hat mich dann an die Hand genommen.“ Für sie ist die Gruppe ein geschützter Raum mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und deshalb einander verstehen.