Die Überlingerin Andrea Zaumseil lebt in Berlin, hat eine Professur an der Universität in Halle und ist dort Dekanin des Fachbereichs Kunst. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Zeichnungen und Stahlplastiken. Im Interview beschreibt Zaumseil, welche besondere Bedeutung die Gedenkstätte für die Opfer des Flugzeugunglücks im Jahr 2002 in der Vielzahl ihrer Arbeiten für sie hat.
Die Annahme ist vermutlich berechtigt, dass der Auftrag für die Gestaltung für Sie ein außergewöhnlicher war.
Ja, der Auftrag war außergewöhnlich. Einen Gedenkort zu gestalten für ein so trauriges Unglück ist eine besondere Herausforderung. Ebenso galt es, ein Bild zu finden, das über kulturelle und politische Grenzen hinweg verständlich ist. Nicht zuletzt war das Geschehen für mich persönlich auch stark emotional besetzt, die Absturzstelle war mir seit Kindertagen von Sonntagsspaziergängen vertraut als ein besonders schöner Ort mit einem meist überwältigenden Blick auf und über den See. In dem Unglück: Das Zusammentreffen von Schönheit und tödlicher Tragödie, von Lebendigkeit und Sterben.
Haben Sie eine besondere Beziehung zu diesem Werk?
Ja, natürlich. Das ergibt sich aus dem gerade Gesagten.
Inwieweit beschäftigt Sie das Thema auch heute noch?
Das Memento Mori, das der Leitgedanke für die Arbeit war, verliert nicht an Aktualität. Die zerrissene Perlenkette steht für das Reißen des Lebensfadens, aber auch von Beziehungen, Kontexten und Zusammengehörigkeit. Wie fragil unsere Lebenszusammenhänge sind, die individuellen und die gemeinschaftlichen, die politischen und die ökologischen, das erfahren wir ja zurzeit auf erschütternde Weise wieder ganz aktuell. Als Grundton aber läuft das sowieso immer mit.
Wie kamen Sie damals zu dem Auftrag des Landes?
Aus Baschkortostan kam der Wunsch nach einer Gedenkstätte. Das Land Baden-Württemberg hat daraufhin einen offenen zweistufigen Wettbewerb für diesen Gedenkort ausgeschrieben, an dem sich Künstlerinnen und Künstler aus Baden-Württemberg und Baschkortostan beteiligen konnten. Die Wettbewerbsjury hatte sich für meinen Entwurf entschieden und ihn zur Realisierung vorgeschlagen. Der Jury gehörten Sach- und Fachpreisrichter und Preisrichterinnen aus Baden-Württemberg und Baschkortostan an.
Wo beziehungsweise wie sind Sie auf die gefundene Perlenkette gestoßen?
Ich hatte mir vorgestellt, dass bei dem Absturz natürlich nicht nur die Flugzeugtrümmer und die Menschen selbst, sondern auch die ihnen zugehörigen Dinge, die sie mit auf die Reise genommen hatten, die sie am Leib trugen, die eine Bedeutung für sie hatten oder auch nicht, mit auf die Erde gestürzt sind. Darüber war auch in der Zeitung zu lesen, davon sprachen auch die Angehörigen, die sich auf die Suche nach diesen Gegenständen und Erinnerungsstücken begaben.
Welche Gedanken liegen der Arbeit zugrunde?
Wie gesagt, das Momento Mori war das Leitmotiv. Ich wollte eine „leise“ Arbeit machen, ein poetisches Bild finden. Das Bild der zerrissenen Perlenkette stellte sich bei meinen ersten Überlegungen sehr schnell ein. Also: der gerissene Faden und die Perlen, die auf die Stadt zurollen, auf die Stadt verweisen. Denn auch das beschäftigte uns ja damals sehr: dass am Boden niemand zu Schaden kam, das grenzte an ein Wunder. Bei der Jurysitzung fragte mich der Verkehrsminister aus Baschkortostan, das ein überwiegend muslimisches Land ist, ob ich wüsste, dass es als ein Zeichen von Unglück – ein kommendes oder ein gerade geschehenes – gilt, wenn die Gebetskette reißt. Nein, das wusste ich nicht. Als ich bei meiner Reise nach Ufa die Familien der Absturzopfer besuchte, zeigte mir eine Mutter die wenigen Dinge ihrer Tochter, die sie im Wald bei Brachenreuthe finden konnte, darunter war auch ein Armband aus schimmernden Glasperlen.

Die Angehörigen der Opfer waren sehr angetan von der Installation. Welche Resonanz habe Sie sonst erhalten?
Es gab auch Angehörige, die sich eine andere Form von Gedenken gewünscht hätten. Die sich gewünscht hätten, dass genau dort, wo der Körper ihres Kindes gefunden worden war, ein Gedenkzeichen gesetzt wird. Das ließ sich so nicht realisieren. Aber von den meisten Angehörigen, mit denen ich in Ufa und in Überlingen sprechen konnte, kam in der Tat eine sehr positive Resonanz. Ebenso aus der Stadt und darüber hinaus. Die zerrissene Perlenkette ist das meiner Werke, auf das ich in unterschiedlichsten Zusammenhängen am häufigsten angesprochen wurde und immer noch werde. Bis heute bekomme ich immer wieder Anfragen zu der Arbeit, für Veröffentlichungen in Reiseführern oder anderen Büchern. Aber auch für Führungen. Das Interesse ist groß, ob dieses Interesse mehr dem immer noch unfassbaren Unglück gilt oder der künstlerischen Arbeit, das lässt sich nicht so richtig trennen.
Sie sind ja in Überlingen geboren. Waren Sie immer mal wieder an der Gedenkstätte? Welche Gedanken bewegen Sie heute hier?
Ja, ich bin immer wieder an der Gedenkstätte. Sie behält für mich eine zeitlose Aktualität, nicht nur in Bezug auf das Unglück von vor 20 Jahren, sondern auch in Bezug darauf, was uns jederzeit widerfahren kann und was Menschen allzeit auch tatsächlich widerfährt durch Unglücke, Krankheiten, Kriege, Gewalt. Das sind sehr unterschiedliche Ebenen, aber sie schwingen für mich mit.
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