Nach dem Flugzeugabsturz von Überlingen, nach dem Feuerinferno in der Gletscherbahn Kaprun, dem Zugunglück von Eschede oder dem Einsturz der Eishalle in Bad Reichenhall: Diplom-Psychologin Aleksandra Schefczyk ist dort zur Stelle, wo Menschen in existenzielle Not geraten. Die Psychologische Psychotherapeutin aus Radolfzell ist auf Krisenintervention spezialisiert und geschult darin, Hinterbliebene an den Unglücksorten aufzufangen.

Die Mutter, die in der Asche ihren Sohn suchte

In dieser Funktion, und weil sie Russisch spricht, war Aleksandra Schefczyk vor 20 Jahren angefragt, beim Flugzeugunglück von Überlingen. Sie begleitete die Hinterbliebenen aus der Russischen Provinz Baschkortostan an die Absturzstelle. Darunter die Mutter eines Jungen, der bei dem Unglück vom 2. Juli 2002 ums Leben kam. Die Mutter beugte sich über verbrannte Erde. „Sie grub in der Asche und suchte nach ihrem Kind“, beschreibt Schefczyk. Immer wieder habe die Mutter gerufen „Wo bist du, wo bist du geblieben?“

Aleksandra Schefczyk nahm sie bei der Hand und sagte: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen beim Suchen.“ Sie hätten dann das Wrack der abstürzten Tupolew etwa eine halbe Stunde lang umrundet, der Blick der Mutter wanderte über die Felder bis zum Bodensee, auf einmal sagte sie: „Wenn mein Junge schon sterben musste, bin ich dankbar, dass er an so einem schönen Ort gestorben ist.“

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Das verzweifelte Graben in der Asche war ein Ausdruck ihrer Ohnmacht. Dagegen brachte sie das gemeinsame Gehen in den Vorgang bewussten Handelns, erklärt Schefczyk: „Sie konnte jetzt etwas tun.“

Das war vielleicht nur ein kleiner Impuls, den Schefczyk setzte. Doch änderte sich dadurch die Perspektive der Mutter. „Sie hat einen anderen Blick auf das Geschehen bekommen.“ Sie kam aus der Erstarrung heraus.

Teile der abgestürzten Tupolew, die neben und auf einem Feldweg nördlich von Überlingen liegen. In der weißrussischen Tupolew, die in ...
Teile der abgestürzten Tupolew, die neben und auf einem Feldweg nördlich von Überlingen liegen. In der weißrussischen Tupolew, die in 13.000 Metern Höhe mit einer Frachtmaschine der DHL kollidierte, saßen 49 Kinder. | Bild: Rolf Haid, dpa

„Macht ist das Gegenteil von Ohnmacht“, erklärt die in Polen geborene Diplom-Psychologin, die im Netzwerk Notfallpsychologie engagiert ist: Die Macht über das eigene Handeln zurückerlangen, Selbstwirksamkeit erfahren – das sind zentrale Faktoren, die dabei helfen, dass aus der akuten Krise später möglichst kein Trauma entsteht.

Die Tochter, die die Ehre des Piloten verteidigte

Therapeutin Schefczyk berichtete weiter, wie sie den Hinterbliebenen des Piloten der russischen Passagiermaschine begegnete: Tochter und Witwe. Sie standen etwas abseits der anderen Angehörigen. „Für mich war dieses Bild nicht stimmig“, wunderte sich die Psychologische Psychotherapeutin anfänglich, um dann zu erfahren, dass man den Frauen indirekt die Schuld am Absturz gegeben, beziehungsweise dem Piloten vorgeworfen habe, er hätte die Kommandos des Flutlotsen auf Englisch nicht verstanden.

Falsche Signale durch den Flutlotsen am Boden

Die Tatsache war hingegen: Als sich die beiden Flugzeuge auf Kollisionskurs befanden, wies das automatische Kollisionswarnsystem TCAS (Traffic Advisory) die Tupolew-Besatzung zum Steigflug an und die Piloten der DHL-Transportmaschine zum Sinkflug. Fatalerweise ordnete der Flutlotse der Skyguide in Zürich das Gegenteil an, was aber nur von den Piloten der Tupolew befolgt wurde, womit beide Maschinen einen Sinkflug einleiteten, der zum Zusammenstoß führte.

„Die Tochter war wie erstarrt mit ihrem Wunsch, die Situation klarzustellen.“ Sie habe an der Absturzstelle wie in einem Refrain den Satz gesagt: „Mein Vater war ein guter Mann, mein Vater war ein guter Pilot.“ Ein Bild in der Schweizer Sonntagszeitung von August 2002 zeigt diese Situation zufällig. Zu sehen ist Schefczyk, wie sie die Tochter stützt, während sie an einem abgerissenen Flügel der Maschine steht.

Aleksandra Schefczyk mit einem Exemplar der Sonntagszeitung vom 4. August 2002. Ein Bild zeigt die Diplom-Psycholgin, wie sie die ...
Aleksandra Schefczyk mit einem Exemplar der Sonntagszeitung vom 4. August 2002. Ein Bild zeigt die Diplom-Psycholgin, wie sie die Tochter des Tupolew-Piloten an der Absturzstelle in Überlingen stützt. | Bild: Hilser, Stefan

„Sie wollte das Geschehen nah erleben, etwas anfassen, um so etwas Unfassbares zu fassen bekommen.“ Es sei richtig, wenn Verstorbene zunächst aufgebahrt werden, wo sich Trauernde verabschieden und erfassen können, dass die Person tatsächlich tot ist.

Nach dem Flugzeugabsturz mutete man den Angehörigen aus guten Gründen nicht zu, die sterblichen Überreste anzusehen. Umso wichtiger war es, ihnen einen Raum zu geben, in dem aus Verdrängung ein Stück weit Anerkennung des Unumkehrbaren werden konnte. Schefczyk: „Da waren nur Trümmerteile. Der Raum war nicht groß, ein abgesperrtes Stück verbrannter Erde – doch war dies das zentrierte Zeichen der Katastrophe.“

Der Vater, der aus Groll einen Mord beging

Der erste Angehörige an der Unglücksstelle war Witali Kalojew, der seine Frau und seine beiden Kinder bei dem Unglück verloren hat, und der später den Flutlotsen aus der Unglücksnacht ermordete. Schefczyk erinnert sich, dass er nach den Leichen suchte, sie auch gefunden habe, als einziger. „Es ist nichts traumatisierender für einen Menschen, als einen zerschundenen Körper eines anderen Menschen zu sehen.“ Diesbezüglich seien auch die Rettungskräfte am Unfallort einer hohen Belastung ausgesetzt.

Witali Kalojew im Juli 2012 bei einem Empfang für die Angehörigen der Opfer des Flugzeugabsturzes in Überlingen. Im Februar 2004 hatte ...
Witali Kalojew im Juli 2012 bei einem Empfang für die Angehörigen der Opfer des Flugzeugabsturzes in Überlingen. Im Februar 2004 hatte er den Flutlotsen aus der Unglücksnacht erstochen. 2007 wurde Kalojew aus der Haft entlassen. | Bild: Tobias Kleinschmidt/dpa

Nein, sagt Schefczyk, die in Radolfzell eine Praxis betreibt, das Sprichwort von der Zeit, die alle Wunden heile, stimme nicht. „Nur: Die Wunden, die heilen, brauchen Zeit. Damit sie heilen können, muss einiges geschehen.“ Sofern die Betroffenen Widersprüche spüren, blieben sie in der Spaltung hängen. Eine wesentliche Maßnahme, damit ihre Wunden heilen können, sei es, dass jemand die Schuld auf sich nimmt.

Die Hinterbliebenen aus Baschkortostan hätten sich nach ihrer Rückkehr nach Überlingen, ein Jahr nach dem Unglück, nichts sehnlicher gewünscht, als dass die Skyguide oder sonst eine Institution die Verantwortung für den Zusammenstoß übernimmt. Das passierte aber nicht. Schefczyk: „So entsteht Groll und ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Das hat bei Kalojew zu Selbstjustiz geführt.“

Wie die Mutter später Trost gefunden hat

Andere verarbeiteten Unglück besser. Schefczyk: „Menschen kommen mit Krisen oder dem eigenen Schicksal besser zurecht, wenn sie es in ihr Lebenskonzept integrieren können.“

Für die Mutter, die in der Asche nach ihrem Jungen gegraben hatte, sei die Schönheit des Ortes, an dem ihr Kind gestorben ist, ein heilsames Momentum gewesen. Schefczyk, die Menschen in den wichtigsten Momenten ihres Lebens hilft, sagte: „Es geht um die menschliche Existenz, um existenzielle Fragen, und hier dann auch um Spiritualität.“

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Vor dem Abflug wollte der Junge Honig essen. Die Mutter habe es ihm untersagt, weil das Glas noch ungeöffnet war. Er solle sich auf den frischen Honig freuen, wenn er von seiner Reise heimkehrt. Sie habe es sich dann nicht verziehen, dass sie ihrem Jungen diesen letzten Wunsch seines Lebens verwehrte. Ein Jahr später bekam Aleksandra Schefczyk das Honigglas geschenkt. „Die Mutter konnte den Honig nicht essen. Sie sagte aber zu mir: ‚Sie sind da, wo mein Sohn ist, und ich würde mich deshalb freuen, wenn Sie den Honig essen.‘“

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