Ab dem nächsten Schuljahr wird an Baden-Württembergs Gymnasien – und damit auch in Überlingen – wieder das neunjährige Gymnasium eingeführt. Schulleiter Hans Weber sieht diese Entwicklung zwiespältig. Unglücklich findet er die Kombination mit dem neuen Kompass 4, einem sehr strengen Test, den alle Viertklässler in Baden-Württemberg absolvieren mussten und der ein weiterer Indikator dafür sein sollte, welche weiterführende Schule die richtige ist. Allerdings erlangten im Fach Mathematik nur sechs Prozent der Viertklässler im Ländle eine Gymnasialempfehlung.

Deutlich weniger als der Empfehlung der Grundschullehrer zufolge. „So, wie der Test gestaltet war, konnte das gar nicht anders sein“, ärgert sich Weber. Und das Kultusministerium räumte selbst ein, dass dieser Test bisher nicht den Ist-Zustand abbilde. Kompass 4 muss auch nicht vorgelegt werden, wenn die Grundschule einem Kind das Gymnasium empfohlen hat. Dennoch, sagt Weber, hätte der Test Eltern und Lehrer von Grundschulkindern sehr verunsichert. „Viele Grundschullehrer fragen sich, ob sie bisher zu großzügig mit den Empfehlungen waren. Was aber nicht der Fall war.“

Schule muss den Leistungen des Kindes entsprechen

Kinder, die eine Gymnasialempfehlung von den Grundschulen hatten, seien in der Vergangenheit auf dem Gymnasium sehr gut zurechtgekommen. Das sieht auch Simone Seelhorst so, Abteilungsleiterin für die Klassen 5/6 am Gymnasium: Kinder mit Gymnasialniveau seien an der Realschule oft unterfordert, was zu Unzufriedenheit und schulischen Leistungen unter den Möglichkeiten des Kindes führe. „Eltern tun ihren Kindern keinen Gefallen, wenn sie ihr Kind an einer Schule anmelden, die nicht seinen Leistungen entspricht. Das gilt in beide Richtungen.“

Wichtig ist den Pädagogen auch, dass die Entscheidung, auf welche Schule das Kind kommt, nicht davon abhängig gemacht wird, wohin der beste Grundschulfreund oder die beste Grundschulfreundin kommt. Neue Freunde lernten die Kinder schnell kennen, auch wenn der Freund an eine andere Schule wechsle.

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Mehr Raum für die Kinder

Dass gerade in diesem Moment, in dem das von vielen ersehnte G9 wieder eingeführt wird, durch den neuen Kompass 4-Test Zweifel gesät werden, empfindet Weber als „ein bisschen paradox und auch frustrierend.“ Denn mit G9 sei der Übergang ins Gymnasium eigentlich einfacher. Das neunjährige Gymnasium lasse den Kindern viel mehr Zeit als G8. Auch in den höheren Klassenstufen finde nun deutlich weniger Nachmittagsunterricht statt, in den Klassen 5 bis 7 vermutlich ein Mal pro Woche für den Pflichtunterricht, in den höheren Klassen ein- bis zweimal.

Hans Weber kennt G9 aus Erfahrung. Schließlich war dieses Schulsystem gang und gäbe, bis zum Schuljahr 2004/05 in Baden-Württemberg G8 eingeführt wurde – was jetzt wieder rückgängig gemacht wird. „Ich glaube schon, dass wir G8 gut hinbekommen haben“, sagt er. „Aber grundsätzlich bin ich ein Verfechter dafür, den Kindern mehr Raum zu geben.“ Wobei das neue G9 mit seinen Innovationselementen deutlich andere Schwerpunkte setze als das frühere.

Am Gymnasium wird bald wieder das neunjährige Gymnasium unterrichtet
Am Gymnasium wird bald wieder das neunjährige Gymnasium unterrichtet | Bild: Bast, Jonathan

Bedarf an Machmittagsbetreuung wird steigen

Wichtig finden Simone Seelhorst und Hans Weber, beim neuen G9 ein Augenmerk auf die Kinder zu legen, die zu Hause an den Nachmittagen nicht durch ihre Eltern betreut werden können – eben weil jetzt weniger Nachmittagsunterricht an der Schule stattfindet. „Viele Kinder sind jetzt schon fast an der Schule zu Hause“, sagt Seelhorst. „Es gibt ja schon zahlreiche AG-Angebote an den Nachmittagen.“ Dieser Bedarf wird sich nun durch den Wegfall von Nachmittagsunterricht noch steigern.

„Wir bieten ein verlässliches Angebot für Lernzeit, Hausaufgabenbegleitung und Arbeitsgemeinschaften mit Lehrpersonen, einer FSJ-Kraft, der Schulsozialarbeiterin und weiteren Lernbegleitern“, erläutert Weber. Er hoffe, dass sich weiterhin ältere Schüler für eine Mentorenausbildung fänden und freue sich auch, wenn Vereine auf die Schule zukämen, um entsprechende Angebote zu machen, sagt Weber. Es gebe hier verschiedene Programme, über die dann auch der Versicherungsschutz laufe. Denn dieser zusätzliche Personalbedarf sei vom Land bisher bislang nicht finanziert.

Mehr Zeit und mehr Ressourcen für die Kinder

Grundsätzlich, da sind sich Weber und Seelhorst einig, biete das G9 mehr Möglichkeiten für projektorientierte Arbeitsformen, die den Schülern auch mehr Partizipation innerhalb des Unterrichts ermöglichen. „Wir wollen beim Thema Demokratiebildung nicht nur lehren, wie ein politisches System funktioniert, sondern dass sich die Schülerinnen und Schüler selbst als demokratisch wirksam erfahren, und zwar beginnend im Lebensraum Schule. Sie sollen Mitbestimmungsmöglichkeiten erfahren, sowohl im Unterricht als auch über den Unterricht hinaus.“ Ziel sei, sagt Weber, „dass die Kinder, die unsere Schule verlassen, die Prozesse verstehen, Fragen stellen und Lösungsmöglichkeiten erkennen und umsetzen können. Und dafür gibt uns G9 mehr Zeit und mehr Ressourcen.“

Übrigens: Nicht nur die neuen, sondern auch die jetzigen Fünftklässler werden dann im neunjährigen Gymnasium unterrichtet. Will heißen: Ab dem Schuljahr 2025/26 laufen die fünfte und die sechste Klasse im G9. „Das ist schon spannend“, sagt Weber. „Die Eltern haben ihre Kinder für G8 angemeldet und bekommen dann nach einem Jahr G9.“