„Das Unglück allein ist noch nicht das ganze Unglück; Frage ist noch, wie man es besteht.“ Diese Formulierung aus einem längeren Zitat des Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl ist für Werner Knubben immer wieder Orientierung gewesen, insbesondere aber bei seiner seelsorgerischen Arbeit nach der Flugzeugkatastrophe in Überlingen.
Nach seiner Ausbildung für den Polizeidienst hatte Knubben noch Theologie studiert, wurde Seelsorger und bisweilen als „Kommissar auf der Kanzel“ apostrophiert. Als Polizeidekan der Diözese Rottenburg-Stuttgart begleitete er 2002 die Einsatzkräfte, aber auch die Hinterbliebenen und baute dabei auch wichtige Brücken zwischen den Religionen. In Vorträgen und Buchbeiträgen reflektierte Knubben verschiedene Aspekte seiner Arbeit auch an diesem Beispiel, das in bis heute beschäftigt.

Der Tod hatte für einige Tage die Herrschaft gewonnen
„Als ich am frühen Morgen des 2. Juli 2002 nach Owingen bei Überlingen kam, war mir sofort klar, dass es hier nicht mehr um das Spannungsverhältnis von erster und letzter Hilfe ging“, schreibt Knubben, der seit 2013 im Ruhestand ist „Der Tod hatte für einige Tage geradezu die Herrschaft über Owingen gewonnen und meine erste Erkenntnis war: Die Menschen hier brauchen einen Ort, wohin sie ihre Klage tragen und wo sie gemeinsam ihrer Trauer Ausdruck verleihen und vielleicht sogar ersten Trost finden können.“ Zugleich habe auch Dankbarkeit und Erleichterung über Owingen und Überlingen gelegen, „dass die Einheimischen verschont geblieben sind und kein Leben verloren hatten und kaum Hab und Gut“. Gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen Matthias Steinmann versuchte er, noch am gleichen Abend Trauergottesdienste für die Bevölkerung zu gestalten.
Zu diesem Zeitpunkt sei den beiden Theologen noch nicht bewusst gewesen, sagt Knubben, wie sehr in diesen Tagen das Toleranzgebot aus Lessings „Nathan der Weise“ die Religionen und Konfessionen herausfordern würde. Die wichtigste Erkenntnis für den ehemaligen Polizeiseelsorger: „In unseren globalisierten Welt können wir gar nicht überleben, und ich schreibe dies bewusst so zugespitzt, ohne Toleranz der Religionen.“
Brückenbau zwischen den Religionen
Es habe ihn tief bewegt, als er mit dem Imam Ibrahim Autentasch im Stollen von Überlingen, wo die Toten bis zu deren Identifizierung aufbewahrt wurden, einen Sarg stellvertretend für alle 71 in Anwesenheit eines trauernden Vaters mit einem weißen Tuch rituell verhüllt habe. Knubben: „Ich werde den Moment nicht mehr vergessen, als Ibrahim und ich uns brüderlich umarmt und unter Tränen versichert haben: Es gibt nur einen Gott“.
Das hatte allerdings nicht allen Mitchristen gefallen, ja manche forderten sogar die Absetzung des Polizeidekans. Doch Werner Knubben ließ sich nicht beirren und beschreibt den ersten Jahrestag des Unglücks so: „Als wir dann zur Stunde, als sich das Unglück jährte, nacheinander mitten in der Nacht auf einem Schweigeweg mit über 1000 Menschen an der Hauptabsturzstelle liturgische Gesänge und Gebete an der mit 71 Fackeln bestückten Stahlgitterwand gesungen und gesprochen haben, da haben alle gespürt und ich denke dankbar aufgenommen, dass ein Brückenbau zwischen den Religionen und Konfessionen möglich geworden ist.“
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Als noch unklar war, ob es Überlebende gibt
„Der Anfang war chaotisch, das freie, ziemlich aufgeregte Spiel der Kräfte war im vollem Gange“, erinnert sich Werner Knubben an die erste Zeit vor Ort. „Hoch motivierte, durch den schwer belastenden Einsatz in der Unglücksnacht erschöpfte Menschen wollten weiter helfen, hatten bereits erste Erfahrungen gemacht, waren in der heißen Anfangsphase, wo noch völlig unklar war, ob es Überlebende gibt und was überhaupt genau geschehen ist, vor Ort und waren brennend daran interessiert, weiterhin in den helfenden Einsatz zu kommen.“
Polizeiseelsorge, polizeiärztlicher Dienst, die Koordinierungsstelle für Krisen und Konflikte und die polizeilichen Konfliktberater kennen einander gut. Sie betreuten insbesondere die in die Tausend gehende Zahl der Polizeibediensteten. Bald sei klar gewesen, dass es keine Überlebende geben und dass der Schwerpunkt des Einsatzes das Finden, Bergen und Identifizieren der Toten sein würde. „Der Umgang mit so vielen Toten war ja für uns alle eine neue Erfahrung“, betont Werner Knubben: „So verstümmelte tote Menschen, so mit Materie und Wrackteilen ineinander verschmolzene Körper und all das, was an sonstigen Sinneseindrücken zu verkraften war.“
Einsatzkräfte erkennen Wert der eigenen Arbeit
In Nachbesprechungen mit 32 Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten habe sich später gezeigt, dass „so gut wie alle eingesetzten Bergungskräfte die überaus schwere Arbeit gut bestanden haben und voraussichtlich auch bestehen werden“. Dazu beigetragen habe vielleicht die Erkenntnis des eigenen Beitrags, „dass nun alle Eltern ihr Kind und kein fremdes in der heimatlichen Erde bestatten konnten“.
Eine Berghütte in den Alpen sollte später dazu beitragen, wie Knubben sagt, „um den Stollen, der als Bergungshalle gedient hatte, zu überwinden und frische Luft zu schöpfen und Freiheit und neue Perspektive dazu....“. Als die Bergungs- und Ermittlungskräfte dort davon gehört hätten, wie die russische Journalistin Ludmilla Petrowskaja in Ufa die Perspektive der Angehörigen in einem großen Artikel dargestellt habe, da hätten die Kollegen erkennen können, wie wertgeschätzt ihre Arbeit bei den Angehörigen der vielen Toten war. Ein tröstendes Fazit habe gelautet: „Alles war würdig und menschlich.“