Irina Petschalina ist noch wach, als sie in der Nacht des 1. Juli 2002 einen lauten Knall hört. Sofort läuft die damals 43-Jährige auf die Terrasse ihrer Wohnung in Owingen. Nachbarinnen erzählen ihr, dass zwei Flugzeuge am Himmel kollidiert sind. „So ein Quatsch, habe ich zuerst gedacht. Der Himmel ist so groß, das kann doch nicht sein“, erzählt Petschalina. Aber es war passiert.

Am Morgen nach dem Unglück rief jemand aus dem Rathaus an und bat sie, für die Rettungskräfte in Owingen zu übersetzen, erinnert sich Petschalina. Sie spricht fließend Russisch. Kurzentschlossen nahm sich die heute 63–Jährige Urlaub und lief zum Rathaus, wo sie bereits viele Politiker, Polizisten und auch zwei Angehörige antraf, die ihre Kinder bei dem Unglück verloren hatten.

Dort, wo heute die neue Owinger Sporthalle steht, sei damals der Start- und Landeplatz für die Hubschrauber gewesen, die das Gebiet nach Opfern absuchten, erklärt die 63-Jährige. Wenn sie heute tief fliegende Hubschrauber hört, bekomme sie immer noch Herzklopfen, sagt sie. Denn immer befürchte sie, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte.

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Am nächsten Tag landete ein Flugzeug aus Baschkortostan in Friedrichshafen. Irina Petschalina und viele andere Dolmetscher waren vor Ort, um die Trauernden in Empfang zu nehmen. „Als die Leute aus dem Flugzeug ausstiegen – das war so schlimm, ich kann es gar nicht beschreiben.“ Die 63-Jährige bekommt Gänsehaut und ist sichtlich bewegt. „Sie waren alle schwarz angezogen, trugen Kränze und Gestecke in den Händen, die meisten haben fürchterlich geweint.“ Die Angehörigen der Opfer wurden zu einem Flugzeugteil in Brachenreute gebracht, an dem keine Leichen mehr waren, erzählt sie. Dort konnten sie ihre Gestecke ablegen und ein erstes Mal Abschied nehmen.

„Sie waren alle schwarz angezogen, trugen Kränze und Gestecke in den Händen, die meisten haben fürchterlich geweint.“
Irina Petschalina, Dolmetscherin

Als direkte Ansprechpartner der Baschkiren kam den Übersetzern eine besondere Rolle zu – nicht zuletzt weil sie die Einzigen waren, die sich mit den Trauernden in ihrer Muttersprache verständigen konnten. „Wir haben alle versucht, die Leute zu trösten, sie in den Arm zu nehmen oder ihnen irgendetwas Nettes zu sagen“, sagt Petschalina. Man habe sich aber so hilflos gefühlt. Einigen Dolmetschern sei die Situation so nah gegangen, dass sie selbst weinen und den Unfallort verlassen mussten. Wenig später befragte die Polizei die Angehörigen nach der Kleidung ihrer Kinder oder nach der DNA der Eltern, um die Leichen identifizieren zu können. „Das war der schlimmste Tag“, erinnert sich die die 63-Jährige.

Etwas Positives ist von diesem Tag dennoch geblieben. Die Hilfsbereitschaft sei riesig gewesen. Nicht nur bei professionellen Hilfskräften, sondern auch in der Bevölkerung. „Jeder hat irgendetwas gekocht oder gebacken oder irgendwie versucht, seine Hilfe anzubieten.“ Am selben Abend wurden die Baschkiren mit einem Sonderflug zurück nach Hause geflogen.

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Zahlreiche Begegnungen in Baschkortostan

Im Januar 2003, ein halbes Jahr nach der Tragödie, flog eine 125-köpfige Delegation von Helfern nach Baschkortostan. Unter ihnen Irina Petschalina. „Wir wurden behandelt wie Könige. Überall wurden wir herzlichst empfangen und haben so viel gutes Essen bekommen, dass wir irgendwann kein Essen mehr sehen konnten“, erzählt sie lachend. „Sie haben sich so viel Mühe gemacht und uns so viel Liebe gegeben.“ Irina Petschalina strahlt, wenn sie von den zahlreichen Begegnungen in Baschkortostan erzählt. Auch die Hilfskräfte untereinander haben sich auf menschlicher Ebene kennengelernt und angefreundet, sagt sie. Mit manchen von ihnen feiere sie heute noch Geburtstag.

Ein Abendessen mit den Angehörigen bei einem Besuch in Ufa im Dezember 2018.
Ein Abendessen mit den Angehörigen bei einem Besuch in Ufa im Dezember 2018. | Bild: Irina Petschalina

Nachdenklich wird sie, wenn sie an den gemeinsamen Besuch auf dem Friedhof denkt. Alle zusammen konnten sie dort noch einmal Abschied von den Verstorbenen nehmen. „Die Menge an Grabstätten war überwältigend. Still standen wir dort, es hatte minus 40 Grad.“ Die baschkirischen Opfer des Unglücks seien alle gemeinsam beerdigt worden, berichtet die Dolmetscherin. Alle haben den gleichen Grabstein und die Gräber seien angeordnet wie die Sitze im Flugzeug.

Eine tragisch-schöne Freundschaft bleibt

20 Jahre später blickt Irina Petschalina auf die Katastrophe zurück.
So tragisch die Umstände sind – es haben Menschen zusammengefunden, die sonst niemals zusammengekommen wären, sagt sie. Bereits bei ihrem ersten Besuch in Ufa, der Hauptstadt Baschkortostans, seien viele Freundschaften entstanden. Seit der Gründung des Freundeskreises Brücke nach Ufa, in dessen Vorstand Petschalina über 14 Jahre lang saß, haben sie sich oft gegenseitig besucht. Eine ganz besondere Freundschaft pflegen Petschalina und ihr Mann zu dem Ehepaar Hammatov aus Ufa, das seinen Sohn bei dem Unglück verloren hat. „Als sie einige Jahre nach dem Unglück wieder ein Kind erwarteten, war das, als wäre ein Kind in unsere eigene Familie hineingeboren worden“, sagt Petschalina.

Irina Petschalina und ihr Mann im gemeinsam Urlaub in Kroatien mit Familie Hammatov. Kennengelernt haben sie das Ehepaar, als ihr damals ...
Irina Petschalina und ihr Mann im gemeinsam Urlaub in Kroatien mit Familie Hammatov. Kennengelernt haben sie das Ehepaar, als ihr damals einziger Sohn bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war. Die zwei Söhne Timur und Iskander wurden nach der Katastrophe geboren, erzählt Petschalina. | Bild: Irina Petschalina