Es ist eine offene Frage, warum die Euthanasiemorde an Patienten der Kreispflegeanstalt so wenig Beachtung finden. 1940 wurden zahlreiche Patienten aus der Obhut dieser Einrichtung des Landkreises Waldshut abtransportiert und dann umgebracht. Eine Liste führt 119 Opfer aus dem ganzen damaligen Kreis Waldshut und darüber hinaus auf; es gibt aber auch eine Quelle, die die Zahl der Opfer mit über 200 angibt.

Die Anfänge der Kreispflegeanstalt

Die Kreispflegeanstalt wurde 1878 eingerichtet. Vielfältig waren die Gründe für eine Einweisung in die Anstalt. Natürlich war Altersgebrechlichkeit ein möglicher Grund, es konnte aber auch wegen anderer körperlicher oder geistiger Gebrechen geschehen.

Es gab auch den offiziellen Grund „Spitalläufer“ für Personen, die man als Simulanten angesehen hat. Gemeinsamer Nenner war wohl, dass die Verantwortlichen keine Verwendung für diese Personen gesehen haben. Man sollte aber nicht übersehen, dass die Patienten mitunter sehr wohl ihre Qualitäten hatten.

Zwei Beispiele aus neuerer Zeit, als die Kreispflegeanstalt längst das Kreisaltenheim geworden war, mögen das aufzeigen: Hans Isele (1933 bis 1998) hatte wegen seines Sprachfehlers den Spitznamen „Ha-Hans“. Er war ein recht freundlicher und umgänglicher Mensch, und um sich ein Taschengeld zu verdienen, spaltete er im Dorf oft Holz. Wem kann man heute noch ruhigen Gewissens eine Axt in die Hand geben?

Alois Bär (1918 bis 1996) war sein Lebtag lang Knecht, bis er nicht mehr gebraucht wurde und nach Jestetten kam. Noch einige Jahre lang hat er den Leuten ihre Sensenblätter gedengelt. Alois Bär hatte das feine Gespür, die Sensen mit genauem Hammerschlag richtig zu dengeln. Wer hat das heute noch?

Die Gräber von Hans Isele (links) und Alois Bär (rechts). Neben dem Grab von Alois Bär steht die Figur eines dengelnden Mannes, ...
Die Gräber von Hans Isele (links) und Alois Bär (rechts). Neben dem Grab von Alois Bär steht die Figur eines dengelnden Mannes, geschaffen wurde die Figur vom Schlossermeister Walter Schudel (1940 bis 2019). Der Dengelstock und der Dengelhammer sind die Werkzeuge, mit denen Alois Bär gearbeitet hat. | Bild: Konrad Schlude

Das Grab von Hans Isele ist noch auf dem Anstaltsfriedhof vorhanden, das von Alois Bär wurde kürzlich abgeräumt.

Staatlich angeordnete „Vernichtung lebensunwerten Lebens“

Die Kranken-/Euthanasiemorde als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im NS-Staat haben eine längere Vorgeschichte. Schon vor 1933 gab es entsprechende Aussagen, und mit Beginn des Krieges 1939 begannen die aktiven Vorbereitungen, die zentral von Berlin aus für ganz Deutschland gesteuert wurden.

Mit allerlei Tricks sollte das koordinierte Morden aber vertuscht werden.

Pfleglinge werden mit Bussen abgeholt und getötet

Eine Beschreibung der damaligen Vorgänge liefert das „Jestetter Dorfbuch“ (2001). Ende 1939 musste der ärztliche Anstaltsleiter Dr. Max Lichtenberger für jeden Pflegling einen Fragebogen zu Gesundheitsstatus und auch zum Verhältnis der Pfleglinge zu Verwandten ausfüllen.

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Im August 1940 wurde der Anstaltsleitung dann mitgeteilt, dass eine Gruppe von Pfleglingen – das Dorfbuch nennt eine Zahl von 75 Personen – in eine andere Einrichtung verlegt werden sollen; und diese Pfleglinge wurden kurz darauf mit Bussen abgeholt.

Zwei Monate später sollten wieder 75 Personen abgeholt werden; im Wissen und der Befürchtung um die wahren Hintergründe sei es zu dramatischen Situationen gekommen sein: „Die Pfleglinge spürten genau die für sie ausweglose Situation. Ein Mann sprang aus dem Fenster des zweiten Stockes und wurde tot aufgefunden. Einer klammerte sich an den Anstaltsleiter und soll geschrien haben: Hilf mir, die bringen mich um.“ (Jestetter Dorfbuch)

Heimleitung versteckt einige Opfer – und rettet so Leben

Anfang Dezember hätte ein weiterer Abtransport stattfinden sollen. Aber diesmal hätte man den „badischen Leiter der Gesamtaktion im Karlsruher Innenministerium“ überzeugen können, dass die Pfleglinge für die Landwirtschaft der Kreispflegeanstalt benötigt würden. Zwar fuhren die Busse trotzdem vor, aber die Pfleglinge wurden versteckt, und die Busse mussten leer abfahren.

Die Gedenkstätte Grafeneck führt 119 Opfer aus der Kreispflegeanstalt Jestetten namentlich auf: Pfleglinge, die aus Jestetten kommend in der Tötungsanstalt Grafeneck durch Kohlenmonoxid getötet worden sind.

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Mit Umwegen über andere Anstalten könnte die Zahl noch höher liegen. Es gibt aber noch eine weitere Person, die zwar nicht getötet worden ist, die man aber in einem gewissen Sinn auch als Opfer ansehen kann: Dr. Max Lichtenberger, der ärztliche Leiter der Kreispflegeanstalt.

Ärztlicher Leiter verliert Glaube an das NS-Regime

Der elsässische Arzt Dr. Gaston Weber kam 1942 als Vertretung für den damals bereits erkrankten Dr. Lichtenberger nach Jestetten.

Im vertraulichen Gespräch erfuhr Dr. Weber von Elisabeth Lichtenberger, der Ehefrau von Max Lichtenberger, von den Ereignissen von 1940. In seinen Lebenserinnerungen notierte Weber, dass Lichtenberger die Pfleglinge als seine Kinder betrachtet und schwer unter den Ereignissen gelitten habe:

Von diesem Tag an sank sein Glaube an das NS-Regime schlagartig. Niemals zuvor hätte er sich ein solches Grauen vorstellen können oder es jemals gewagt, daran zu glauben. Zu dieser Zeit begann auch seine Krankheit, die für ihn ein schwerer Schock war.

Eine ähnliche Aussage, dass die Morde verantwortlich für die Erkrankung Lichtenbergers gewesen seien, findet sich auch in der Zeitung „Neue Zürcher Nachrichten“ vom 3. Juli 1945: „Dr. Lichtenberger verfiel in geistige Umnachtung und ist heute hoffnungslos geisteskrank. Die Leute der Ortschaft machen ihn für die Ermordung ihrer Väter, Mütter, Großeltern verantwortlich. Es kann nun aber nachgewiesen werden, dass Lichtenberger sich mit Händen und Füßen gegen diese Deportierungen gewendet hat.“

Erinnerung an die heimlichen Helden

Neben den Opfern sollte auch an „die Aufrechten“ erinnert werden: Personen, die sich im Dezember 1940 trotz Gefahr für die Bedrohten, eingesetzt haben. Das Jestetter Dorfbuch schreibt dazu: „Die damaligen Wärter Adolf und Hans Fricker, dazu eine Reihe Jestetter Helfer und die Ordensschwestern, hatten einen Teil der Pfleglinge vorsorglich auf Speichern oder in Scheunen versteckt. Einige jüngere schickten sie in den Wald, wo diese warteten, bis die Transporteinheit endgültig abgezogen war.“

Kulturdenkmal auf dem Anstaltsfriedhof. Der Gedenkstein „Den Opfern von Krieg und Gewalt“ wurde 1988 als Ergebnis einer ...
Kulturdenkmal auf dem Anstaltsfriedhof. Der Gedenkstein „Den Opfern von Krieg und Gewalt“ wurde 1988 als Ergebnis einer privaten Initiative aufgestellt. Hinter den kleineren Grabsteinen von Ordensschwestern sind das hölzerne Kreuz und die Holztafeln der „Klugen Jungfrauen“, geschaffen vom Bildhauer Siegfried Fricker (1907 bis 1976). | Bild: Konrad Schlude

So gibt es unter anderem die mündliche Überlieferung, dass eine kleingewachsene Frau, genannt „Lineli“, unter einem großen Wäschekorb versteckt worden ist.

„Ein Lumpen statt Hakenkreuzflagge“: Mutige Aktion wird sofort bestraft

Beim Wärter Hans Fricker ist aber noch eine frühere Episode zu erwähnen. Bei einer angeordneten Hakenkreuz-Beflaggung der Kreispflegeanstalt im Jahr 1935 hatte Fricker eine unüberlegte Bemerkung gemacht, etwa im Sinne: Statt der Hakenkreuzflagge würde man besser einen Lumpen aufhängen.

Damit schrammte der mehrfache Familienvater Fricker haarscharf an einer Entlassung vorbei, er bekam eine strenge dienstliche Rüge und musste zudem den damals stolzen, für die große Familie wohl schmerzhaften Betrag von 30 Mark bezahlen. Und trotz der Erfahrung von 1935 und der bewussten Gefahr hat sich Hans Fricker 1940 für die Pfleglinge eingesetzt.

1935 erhielt Johannes (Hans) Fricker eine „strenge dienstliche Rüge“ wegen „ungehöriger Bemerkungen“ bei einer ...
1935 erhielt Johannes (Hans) Fricker eine „strenge dienstliche Rüge“ wegen „ungehöriger Bemerkungen“ bei einer „Beflaggung der Kreispflegeanstalt Jestetten“.Gemäß der Überlieferung in der Familie hatte Hans Fricker bemerkt, dass man statt der Hakenkreuzflagge besser einen Lumpen aufhängen würde.Eine Kopie der Rüge ging auch an die Anstaltsdirektion „zur Kenntnis und Überwachung des Wärters Hans Fricker“. | Bild: Repro: CDU Kreisverband Waldshut

Die Frage nach der Verantwortung

Es stellt sich natürlich auch die Frage nach der Verantwortung. Es ist bekannt, dass die Euthanasiemorde von Berlin aus gesteuert wurden und durch verschiedene Vertuschungsmechanismen geheim gehalten werden sollten.

Auf der anderen Seite ist es so, dass die Kreise und dadurch auch die Kreispflegeanstalten Einrichtungen des Landes Baden waren; es ist daher davon auszugehen, dass Verantwortliche in Land und Kreis auf die eine oder andere Art informiert oder gar involviert gewesen sind. Gemäß Dorfbuch gab es ja einen Verantwortlichen im badischen Innenministerium. Was wusste also der badische Reichsstatthalter Robert Wagner? Was wusste ein Camill Hofheinz als Leiter der Kreisverwaltung?

Was noch an die Ermordeten erinnert

Es erinnert nicht viel an die Ermordung von so vielen Menschen. Auf dem „Anstaltsfriedhof“ gibt es einen Gedenkstein mit der Inschrift „Den Opfern von Krieg und Gewalt“. Dieser Gedenkstein wurde 1988 aufgestellt, er ist aber das Ergebnis einer privaten Initiative.

Zusammen mit den Grabsteinen von Ordensschwestern und hölzernem Kreuz und Holztafeln des Jestetter Bildhauers Siegfried Fricker (1907 bis 1976) bildet der Gedenkstein ein unter gesetzlichem Schutz stehendes Kulturdenkmal. Aber das Interesse am Erhalt des Kulturdenkmals erscheint gering zu sein.

Der Landkreis will die noch bestehenden Gräber möglichst schnell abräumen, um so die Grabpflege loszuwerden. Die Gemeinde wäre dann in vollem Umfang für die Pflege des gesamten Grundstücks zuständig. Nun ist beispielsweise der Sockel des Holzkreuzes morsch, und wer kümmert sich um die Instandsetzung?

Gedenken an die Opfer wach halten

Das Interesse, sich mit den Euthanasiemorden an Patienten der Jestetter Kreispflegeanstalt auseinanderzusetzen, scheint nach wie vor gering zu sein. Nachdem die CDU Jestetten im Rahmen der Gedenkveranstaltung „Den Opfern von Krieg und Gewalt“ am 26. August 2021 auch den Euthanasieopfern gedacht hat, setzen sich Bildungswerk und Kolping für den Erhalt des Kulturdenkmals auf dem Anstaltsfriedhof ein.

Ferner ist es das Ziel, den Opfern Namen und im Idealfall auch ein Gesicht zu geben, also möglichst viele biografische Daten und vielleicht sogar Fotos der Opfer zu sammeln.

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