Sie müssen immer stark sein und erleben tagtäglich diese große Belastung: Maria S. aus Bad Säckingen und Karin M. aus Wutöschingen sind beide Mütter psychisch kranker Kinder. Die Krankheit ihrer Kinder, die beide noch zuhause wohnen, bestimmt ihr Leben rund um die Uhr. Und das für immer. Karin M. steht nachts auf, um ihrem Sohn Essen zuzubereiten, und Maria S. mörsert Tabletten in einen Saft, die die Tochter ansonsten verweigern würde.
Laura, die Tochter von Maria S., war 15 Jahre alt, als ihre Krankheit sich ankündigte. Ihr Verhalten hat sich immer mehr verändert. Die heute 40-Jährige lebt in ihrer eigenen Welt vor sich hin, völlig antriebslos. 1993 dann die Diagnose „Shizophrenia simplex“. Das ist eine sehr seltene Unterform der Schizophrenie.
Max, der 30-jährige Sohn von Karin M., leidet an einer sozialen Phobie. Für ihn ist es schwer, sich mit fremden Menschen und Situationen auseinanderzusetzen, er hat permanente Angst dabei etwas Falsches zu tun. Das kann bis zu Panikattacken führen. Die Folge: Sein Leben ist nur noch in den eigenen vier Wänden möglich. Hinzu kommt seine Depression. Er fühlt nichts, ist antriebslos. All das begann in der Pubertät. Er konnte dem Druck in der Ausbildung nicht standhalten.
Betroffene im Kreis Waldshut
Lauras Schizophrenie ist kein Einzelfall im Landkreis Waldshut. Allein bei der AOK sind 372 Versicherte davon betroffen. Diese Zahl nennt die mitgliederstärkste Krankenkasse für das Jahr 2017, das entspricht 0,58 Prozent aller AOK-Versicherten im Kreis. An sozialen Phobien waren 340 AOK-Versicherte erkrankt. Eine der häufigsten psychischen Krankheiten jedoch sind Depressionen, wovon auch Max betroffen ist: Im Jahr 2017 waren es 5760, 8,4 Prozent aller AOK-Versicherten. Deutlich ist hier der Unterschied zwischen den Geschlechtern: Es waren 1812 Männer und 3948 Frauen.
Krankheiten sind generell behandelbar
Lauras und Max‘ Krankheiten bleiben laut ihrer Mütter ein Leben lang. Doch Claudia Vallentin, Chefärztin des Psychiatrischen Behandlungszentrums Waldshut-Tiengen des ZfP Reichenau, betont: „Alle psychischen Erkrankungen können grundsätzlich erfolgreich behandelt werden. In manchen Fällen ist es aber schon möglich, dass die Krankheit für immer bleibt“.

Wie belastend die Situation für die Angehörigen ist, machen die beiden Mütter im Gespräch deutlich. „Es ist der Knackpunkt, zu begreifen, dass die Situation ein Leben lang bleibt“, sagt Karin M. Der Alltag sei im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, ergänzt Maria S. Nachdem Laura von 1993 an in verschiedenen Einrichtungen war, wohnte die Tochter ab 2005 wieder zuhause und besuchte eine Tagesstätte in Tiengen. Sie knüpfte soziale Kontakte. Für ihre Mutter „ein Lichtblick“.
„Es ist der Knackpunkt, zu begreifen, dass die Situation ein Leben lang bleibt.“Karin M.
Laura verliert die Kontrolle
Doch eines Tages blieb Laura auf ihrem Weg nach Tiengen einfach im Zug sitzen, fuhr bis nach Ulm. Ihre Tochter habe die Kontrolle über sich verloren und sei in einer Psychiatrie gelandet, so Maria S. Und es gibt ein weiteres Ereignis, an das Lauras Mutter heute nur noch ungern zurückdenkt: „Als Laura 15 war, ist sie auf dem Weg zur Schule einfach abgehauen und drei Tage verschwunden.“
Als man sie fand, wurde sie ins Zentrum für Psychiatrie Reichenau verlegt. „Sie haben sie im Polizeiwagen weggebracht wie eine Schwerverbrecherin, total zugepumpt mit Medikamenten. Das ist noch heute ein traumatisches Erlebnis für mich“, sagt Maria S.
„Sie haben sie im Polizeiwagen weggebracht wie eine Schwerverbrecherin, total zugepumpt mit Medikamenten.“Maria S.
„Alle psychischen Erkrankungen beeinflussen alle Bereiche des Menschen – das Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Verhalten. Es verändert sich der ganze Mensch mit all seinen Fähigkeiten. Das hat extreme Auswirkungen auf seinen Alltag und auf seine Beziehungen“, sagt Claudia Vallentin.
Umfeld reagiert mit Unverständnis
Vor allem die Reaktionen des Umfeldes seien ein Problem. Zu schwierig sei es für die Menschen gewesen, mit der Krankheit umzugehen, so die Mütter. Darunter leiden nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen. Maria S. sagt: „Ich habe mich dann total zurückgezogen.“ Auch Max`Mutter Karin M. machte diese Erfahrung: „Ich wollte mit niemandem darüber reden, war es leid, immer wieder das Gleiche erzählen zu müssen.“ Beide Mütter verloren soziale Kontakte.
Wie sehr die Krankheit das Familienleben bestimmt, weiß Karin M. Ihr Sohn Max habe einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus. Schlafentzug würde sich für ihn nur negativ auswirken. So richte auch die Mutter ihren Rhythmus auf ihn ein. Ihre Wünsche sich selbst anderswo einzubringen, blieben unerfüllt: „Man ist nicht frei.“
Kraft tanken
Doch wie lernt man als Angehöriger, wieder Kraft zu tanken? Man schwimme lang in der Welle des Kranken mit, sind sich beide Mütter einig. Wenn es dem Kind schlecht gehe, gehe es auch der Mutter schlecht. Und so hätten sie ganz lange vergessen, sich um sich selbst zu kümmern. „Wir sind als Eltern 24 Stunden in diesem Thema drin, das ist eine wahnsinnige Belastung“, sagt Karin M.
Die Strategie von Maria S.: Sie musste so oft wie möglich raus, sei dabei aber fast zu aktiv geworden. „Das musste ich, sonst wäre ich eingegangen wie eine Primel“, sagt sie. Aktivität half auch Karin M.: „Ich ging raus in die Natur, das pustete mir den Kopf frei.“ Für beide war die Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker sehr wertvoll. Endlich trafen sie auf Menschen, die wussten, wovon sie redeten, die sie verstanden. Das habe gut getan.
Wut und Schuldgefühle
Die Angehörigen durchleben ein Wechselbad der Gefühle. Dazu zählen auch Schuldgefühle. „Man fragt sich, ob man etwas hätte ändern oder es früher hätte merken können“, sagt Karin M. Auch das Gefühl der Hilflosigkeit sei immer wieder da. Und Wut. Wut auf die kranke Person. Man müsse sich immer wieder bewusst machen, dass die Patienten krank sind. „Das Verhalten ist Teil der Krankheit“, sagt Karin M. „Das zu unterscheiden, klappt aber auch nicht immer“, gibt Maria S. zu.
Die Angst der beiden Mütter liegt im Blick auf die Zukunft. „Was passiert, wenn wir nicht mehr da sind? Den Geschwistern können wir das nicht zumuten“, sagen sie. Es gebe im Landkreis Waldshut keine Stelle für Patienten, die nicht in einer Gemeinschaftseinrichtung leben können, keine betreute Wohneinrichtung für Einzelpatienten. In anderen Teilen Deutschlands gebe es Fachleute, die zu den Kranken nach Hause kommen. So etwas wünschen sich auch Maria S. und Karin M. für ihre Kinder. Doch das gebe es hier nicht.
Sechs bis acht Monate Wartezeit auf Therapie
Dass die Versorgung nicht optimal sei, räumt Susanna Heim, Pressesprecherin des Landratsamtes, ein. Vom Fachärztemangel im Landkreis sei auch die Psychiatrie betroffen. „Seit Jahren konnte kein neuer Psychiater gewonnen werden. Das ist unbefriedigend und verschärft die Situation“, so Heim. Die Wartezeit von sechs bis acht Monaten für eine Therapie entspreche aber dem landesweiten Durchschnitt, so Heim. Aber: „Der Landkreis Waldshut liegt an der Spitze bei den Plätzen für ambulantes betreutes Wohnen für psychisch kranke Menschen“, so Heim.
Für Maria S. und Karin M. ist die Krankheit ihrer Kinder eine große Last. Doch sie sehen nicht nur schwarz. Karin ist dankbar für die vielen schönen Momente, die andere als selbstverständlich sehen. Und Maria ist dankbar, dass sie jeden Tag erneut die nötige Kraft bekommt.
Hintergründe und Anlaufstellen
- Risikofaktoren: Psychische Erkrankungen können laut Claudia Vallentin, Chefärztin des Psychiatrischen Behandlungszentrums Waldshut-Tiengen des ZfP Reichenau, begünstigt werden durch einen niedrigen sozialen Status, schwere Lebensereignisse wie den Verlust eines geliebten Menschen, berufliche Belastungen oder Wohnungslosigkeit. Psychische Erkrankungen machen sich laut Vallentin am häufigsten erstmals im jüngeren Erwachsenenalter bemerkbar.
- Alarmsignale: Anzeichen für eine solche Erkrankung können laut Vallentin Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Nervosität, Geräuschempfindlichkeit oder Erschöpfung sein. Auch Schmerzen, die keine körperliche Ursache haben, gehören dazu.
- Versorgung im Kreis: Neben dem ZfP in Waldshut gibt es auch die Kinder-und Jugendpsychiatrie in Lauchringen sowie viele weitere Stellen. In aufsuchenden Behandlungen zu Hause, sei man laut Vallentin noch nicht gut aufgestellt: Derzeit werde in einzelnen Kliniken die stationsäquivalente Behandlung aufgebaut. In dieser werden die Erkrankten so zuhause behandelt wie stationär in einer Klinik. „Es wäre wünschenswert, wenn es davon mehr geben würde“, so Vallentin.
- Anlaufstelle IBB: Die Informations-, Beratungs- und Beschwerdestelle (IBB) berät Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige im Landkreis Waldshut. Die ehrenamtlichen Berater sind alle selbst Angehörige, Betroffene sowie psychiatrische Fachkräfte. Sie beiten jeden ersten Montag im Monat von 14.30-16.30 Uhr im Landratsamt Waldshut eine Sprechstunde an, eine Anmeldung dazu ist erwünscht. Auch individuelle Termine sind möglich. Die IBB ist rund um die Uhr über einen Anrufbeantworter erreichbar unter folgender Telefonnummer: 07751/915 11 10. Die meisten der Ratsuchenden kommen aus Waldshut-Tiengen, nur wenige aus anderen Kreisgemeinden. Deshalb plant die IBB aktuell die Einrichtung einer Außenstelle in Bad Säckingen. Die IBB sucht Verstärkung durch Ehrenamtliche. Weitere Infos gibt es unter www.ibb-waldshut.de