Alla Shaheen sitzt in Waldshut im Haberer-Haus, gemeinsam mit Melanie Schweizer von Inivia, dem katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit. Hier am Invia-Standort Waldshut hat Alla Shaheen nach ihrer Flucht Hilfe gefunden, hier hat sie aber auch selbst schon viele Frauen unterstützt.

Im Gespräch Anfang April blickt die 29-Jährige zurück auf ihre Flucht und erklärt, warum sie sich als Frau in Deutschland nun viel freier und stärker fühlt. Sozialarbeiterin Melanie Schweizer betont indes, dass mit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine, auch die Geflüchteten aus Syrien nicht vergessen werden dürfen.

Als die Panzer schossen

Allah Shaheen erinnert sich noch genau daran, als 2011 die Panzer durch ihre Straße in der Stadt Homs im Westen von Syrien fuhren. „Als die Panzer schossen, ist mir das Trommelfell geplatzt“, erzählt sie heute, elf Jahre später. Sie wären gewarnt worden und aufgefordert, schnell zu flüchten.

Denn das Militär habe die Männer auf die Straße gerufen, in einer Reihe aufgestellt und erschossen. Die Frauen seien – meist von mehreren Männern – vergewaltigt und dann auch erschossen worden. „Sie erschossen die Menschen und ließen sie auf der Straße liegen“, erzählt Allah Shaheen.

Teile der umkämpften syrischen Provinz Homs sind von Schnee bedeckt. Das Bild von 2016 zeigt einen Motorradfahrer in Talbisseh, der ein ...
Teile der umkämpften syrischen Provinz Homs sind von Schnee bedeckt. Das Bild von 2016 zeigt einen Motorradfahrer in Talbisseh, der ein zerbombtes Gebäude passiert. | Bild: Archivbild: AFP

Eine Woche nach dem ersten Schuss aus dem Panzer sei sie mit ihrer Familie in den Libanon geflüchtet. Kurz darauf sei in Homs alles zerstört gewesen – auch die Wohnung und die Schreinerei der Familie.

25 Tage auf der Flucht

Im Libanon habe die Familie drei Jahre lang gelebt. Doch das sei eine sehr schwierige Zeit gewesen, wie Shaheen heute erzählt. Kindergarten und Schule und auch die Miete seien zu teuer gewesen.

Die Familie lebte mit zwei weiteren Familien in einer Wohnung, jede in einem Zimmer, schildert Shaheen. 2014, als sie wieder schwanger war, ging der Weg der Familie weiter nach Deutschland. Ihr Mann versuchte, die 12.000 Euro für das Containerschiff zu bezahlen, dass die Familie nach Italien bringen sollte. Es gelang ihm und so ging es mit dem Flugzeug zuerst in die Türkei, dann ein paar Tage später ins reservierte Containerschiff.

Für 12.000 Euro im Containerschiff nach Italien

Die Flüchtlinge hätten in den Containern versteckt werden müssen, damit sie nicht entdeckt werden konnten. Sie seien 15 Tage auf dem Meer unterwegs gewesen mit Zwischenstopp in Griechenland, um weitere Flüchtlinge aus kleinen Booten aufzunehmen.

„Wir hatten nicht genug zu Essen für viel zu viele Menschen.“ Ein Tag vor ihrer Ankunft in Italien sei das Schiff kaputt und die Reise mit einem anderen Schiff weitergegangen. Bis zur Ankunft in Deutschland sei die Familie 25 Tage unterwegs gewesen.

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„In Frankreich haben wir eine Nacht auf der Straße übernachtet“ erinnert sich Shaheen.

Kontrolle erst in Deutschland

Erst in Stuttgart sei die Familie kontrolliert worden. „Glücklicherweise“, wie Melanie Schweizer von Invia sagt, „denn eigentlich müssen sich Geflüchtete in dem ersten europäischen Land, in dem sie ankommen, registrieren lassen. Dort wo sie kontrolliert werden, müssen sie bleiben und können dann ihr gewünschtes Ziel nicht mehr ansteuern.“

Alla Shaheen im Hof des Haberer-Hauses in Waldshut, in dem die Organisation Invia untergebracht ist.
Alla Shaheen im Hof des Haberer-Hauses in Waldshut, in dem die Organisation Invia untergebracht ist. | Bild: Wehrle, Verena

Weitere Stationen der Familie waren Karlsruhe, ein Aufenthalt in der Flüchtlings-Kaserne Meßstetten und ein Monat im Container in Bad Säckingen, dann eine Flüchtlingsunterkunft in Rickenbach.

Dort bekam Allah Shaheen im Mai 2014 ihr drittes Kind und erfuhr einen Tag nach der Geburt, dass die Familie drei Jahre bleiben darf. Dann hätten sie endlich eine Wohnung anmieten dürfen – in Waldshut.

So gelingt die Integration

Ihr Mann fand schnell eine Arbeit als Schreiner, wo er auch heute noch tätig ist. Doch anfangs sei es sehr schwer gewesen – alleine als Frau mit den Kindern: „Ich war viel zu viel alleine.“ Doch Allah Shaheen ging ihren Weg.

Ihr größerer Sohn habe sehr schnell Deutsch gelernt und auch sie dazu motiviert. Von Anfang an hätte Shaheen viel Kontakt zu Deutschen gehabt, womit das Deutschlernen schon beim Helferkreis in Rickenbach begann. Sie lernte die Sprache so gut, dass sie fortan für andere geflüchtete Frauen übersetzte.

Bei Invia ist die einstige Hausfrau heute als Dolmetscherin auf Honorarbasis tätig, auch für das Jugendamt übersetzt sie immer wieder. „Sie ist schon bekannt und wird immer wieder angefragt“, sagt Melanie Schweizer.

Und Allah Shaheen freut sich, dass sie jetzt anderen helfen kann.

Alla Shaheen präsentiert beim Frauenfrühstück im Familienzentrum Lauchringen im Oktober 2021 verschieden Speisen aus Syrien, die sie und ...
Alla Shaheen präsentiert beim Frauenfrühstück im Familienzentrum Lauchringen im Oktober 2021 verschieden Speisen aus Syrien, die sie und andere Frauen zubereitet haben. | Bild: Wehrle, Verena

Auch bei Veranstaltungen – wie etwa dem Frauenfrühstück im Familienzentrum Lauchringen war sie als Übersetzerin tätig.

INVIA

Stärker geworden in Deutschland

Als Frau habe man in Deutschland bessere Chancen als in Syrien, sagt Alla Shaheen. Das Kopftuch sei hier sogar mehr akzeptiert als in ihrer Heimat. Sie habe diesbezüglich in all den Jahren in Deutschland noch nie eine negative Bemerkung gehört.

„Eine Frau hat hier viel mehr Freiheiten, bekommt ihren eigenen Lohn, ihre eigene Bankkarte“, zählt Alla Shaheen die Unterschiede auf. Ihr Mann aber habe sie immer unterstützt, sie die Dinge selbst regeln lassen.

Und doch sagt sie: „Ich bin in Deutschland viel stärker geworden.“ Sie fühle sich hier freier und selbstbestimmter als in ihrer Heimat oder auch im Libanon. „Hier sind alle gleich“, sagt sie.

Melanie Schweizer (links) von Invia unterstützt geflüchtete Frauen. Auch Alla Shaheen fand hier Hilfe und arbeitet heute dort als ...
Melanie Schweizer (links) von Invia unterstützt geflüchtete Frauen. Auch Alla Shaheen fand hier Hilfe und arbeitet heute dort als Dolmetescherin. | Bild: Wehrle, Verena

Die neue Freiheit

Am 21. März 2022 war es dann soweit und die Familie ist eingebürgert worden. „Das bedeutet uns so viel, wir dürfen hierbleiben und überall hin reisen.“

Nur an einen Ort dürfe die Familie nicht reisen: Zurück nach Syrien. Denn würde sie nun in Syrien am Flughafen stehen, könnte es sein, dass sie verschleppt wird und spurlos verschwindet, wie die 29-Jährige sagt. Schließlich würden Flüchtlinge dort als Verräter gelten. Da helfe auch die Einbürgerung nicht. „Keiner darf dann fragen, wo man ist.“ Man dürfe eben nicht vergessen, dass dort immer noch Krieg ist.

Anfang April 2022: Alla Shaheen erwartet ihr viertes Kind.
Anfang April 2022: Alla Shaheen erwartet ihr viertes Kind. | Bild: Wehrle, Verena

So kann sie ihre Familie in Syrien vorerst nicht wiedersehen. Auch ein Besuch der Familie hier in Deutschland sei momentan nicht möglich: „Die Grenzen sind zu.“ Ob sie Bilder von damals habe, wird sie im Gespräch gefragt. „So etwas durften wir damals nicht mit über die Grenze nehmen. Zu gefährlich“, sagt sie.

Doch über die Einbürgerung sagt Shaheen: „Das ist für uns unsere neue Freiheit.“ Sie strahlt dabei über das ganze Gesicht. Denn nun kann auch das vierte Kind, das im Mai zur Welt kommen soll, in der neuen Heimat aufwachsen. Ja, es ist die neue Heimat, denn, so sagt Shaheen: „Ich fühle mich nun als Deutsche und nicht mehr als Flüchtling.“

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