Frau Meier-Hähnle, was ist Zöliakie überhaupt. Handelt es sich um die sogenannte Gluten-Unverträglichkeit?

Nicht ganz, Zöliakie ist eine Autoimmunerkrankung und eine Form der Glutenintoleranz, geht aber einen Schritt weiter. Bei einer Glutenunverträglichkeit kann es zu Unwohlsein und Magen-Darm-Beschwerden kommen. Bei der Zöliakie verändert sich durch den Konsum von Gluten – das ist das Klebereiweiß in den einheimischen Getreidesorten wie Weizen, Dinkel, Roggen und Gerste – tatsächlich die Struktur des Dünndarms: Die Schleimhaut entzündet sich, Darmzotten sterben ab und dadurch kann der Körper nicht mehr genügend Nährstoffe aus der Nahrung aufnehmen. Das führt dazu, dass Betroffene ständig mangelernährt sind.

Welche Folgen kann diese Mangelernährung haben?

Zöliakie gilt als Chamäleon der Medizin, weil die Beschwerden so vielseitig sein können, wie die Farben dieses bunten Reptils. Sie reichen von klassischen Magen-Darm-Beschwerden über Abgeschlagenheit, Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, Kinderlosigkeit, Herzschwächen bis hin zu verschiedenen chronischen Schmerzerkrankungen. Das macht die Diagnose so schwierig, aber je früher sie erfolgt, desto weniger Folgeerkrankungen.

Wie viele Menschen sind betroffen?

Neuere Untersuchungen zeigen, dass rund einer von 100 Menschen betroffen ist. Die Deutsche Zöliakie-Gesellschaft (DZG) hat in den Landkreisen Waldshut und Lörrach aktuell 565 Mitglieder – die Dunkelziffer ist aber weit höher, weil zum einen nicht jeder Betroffene Mitglied der DZG ist und zum anderen sehr viele überhaupt nicht wissen, dass sie an Zöliakie leiden.

Sie sind auch selbst betroffen. Wie hat man das entdeckt?

Ich selbst galt seit frühester Kindheit als schwierige Esserin. Unter fünf Kindern war ich diejenige, die viele Lebensmittel verweigert hat – vermutlich ganz intuitiv, weil mein Körper sie nicht verarbeiten konnte. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt – ich war so oft kraftlos und sehr infektanfällig. Dazu kommt, dass ich nur 1,50 Meter groß bin, während alle in meiner Familie zwischen 1,75 und 1,80 Meter messen. Aber zahlreiche Ärzte untersuchten mich und schickten mich mit den Worten „Reduzieren Sie Stress“ wieder nach Hause. Ich fühlte mich überhaupt nicht ernst genommen! Erst 2017, im Alter von 62 Jahren, entdeckte ein Spezialist mittels Blut- und Gewebeproben durch eine Magenspiegelung, dass ich Zöliakie habe.

Wie fühlte sich die Diagnose an?

Ich war erleichtert, weil ich endlich die Ursache für mein Unwohlsein kannte, und so geht es sehr vielen Betroffenen. Die Diagnose bedeutet, dass man von einem auf den anderen Tag sein komplettes Leben umkrempeln muss, aber man hat endlich einen Anhaltspunkt.

Was sind die größten Herausforderungen dabei?

Man muss ganz neu einkaufen, kochen und backen lernen, sich intensiv mit dem Kleingedruckten auf Lebensmitteln und sogar Kosmetikartikeln auseinandersetzen. Wer fortan strikt glutenfrei lebt, kann die Krankheit zum Stillstand bringen. Aber zu den größten Hürden im Alltag gehören auch psycho-soziale Aspekte. Jede Essens- oder Festeinladung bringt Herausforderungen mit sich, zum Beispiel bringt man zu einer Kaffee-Einladung seinen eigenen Kuchen mit. Schleichend wird man immer seltener eingeladen – das berichten viele Betroffene.

Glutenfreie Kost ist ja auch ein Trendthema, das immer mehr gesundheitsbewusste Menschen aufgreifen...

Das stimmt. Das Problem dabei: Glutenfrei ist noch lange nicht strikt glutenfrei. Wer unter diagnostizierter Zöliakie leidet, darf nicht einmal Spuren von Gluten zu sich nehmen, weil die Krankheit sonst wieder ausbricht. Das heißt: Der Verzicht auf Brot und Nudeln reicht nicht aus. Fertigprodukte sowie einfache Hilfsmittel wie Suppenwürfel oder Saucenbinder werden tabu, weil oft Gluten beigesetzt ist. Und auch als „glutenfrei“ deklarierte Brote beim Bäcker oder Menüs in Restaurants sind in der Regel nicht strikt glutenfrei. Das bedeutet nämlich, dass nicht einmal dasselbe Handrührgerät in der Küche verwendet werden dürfte oder Mehlpackungen nebeneinander gestanden haben dürfen. Das alles erhöht die Gefahr, dass das glutenfreie Gericht kontaminiert ist. Allerdings muss jedes Produkt im Supermarkt, das als „glutenfrei“ deklariert ist, auch tatsächlich strikt glutenfrei sein.

Das klingt recht kompliziert...

Wenn ich Hirse kaufe, sitze ich oft stundenlang vor dem Radio und sortiere andere Getreidekörner aus der Packung, die bei der Abfüllung hinein gerutscht sind. Man muss überall genau hinschauen. Mit Zöliakie leben ist eine Herausforderung für die ganze Familie. Ob im Alltag, bei Einladungen oder bei plötzlichen Einweisung in ein Krankenhaus – man muss ständig eine Notration Essen dabei haben. Frisches Obst und Rohkost gehen zum Glück immer. Selbst Spitäler müssen strikt glutenfreie Mahlzeiten vorbestellen und können sie nicht spontan abrufen.

Also fehlt es auch in öffentlichen Einrichtungen an Angeboten für Betroffene?

Leider ist diese Notwendigkeit in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen. Im Rahmen der Selbsthilfearbeit erstelle ich regionale Listen mit Einrichtungen, die bereits strikt glutenfreie Kost in unserer Region anbieten. Die Ergebnisse sind leider ernüchternd: Die angefragten Schulen und Kindergärten haben auf meine Anfrage entweder nicht reagiert oder rückgemeldet, dass sie sich damit auseinandersetzen werden, wenn ein Kind betroffen ist. Von allen angefragten Pflegeeinrichtungen antwortete eine einzige, dass sie sich mit strikt glutenfreier Kost auskenne.

Warum fordern Sie öffentliche Einrichtungen und Restaurants zum Umdenken auf?

Es geht um ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle Menschen. Wir alle müssen essen. Das Stichwort „Barrierefreiheit“ ist hier angebracht, und zwar nicht nur für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, sondern auch für Menschen, die besondere Ernährungsbedürfnisse haben. Nicht ohne Grund können Zöliakie-Betroffene einen Antrag auf einen Grad der Behinderung von 20 Prozent beim Landratsamt stellen.

Was macht die DZG-Selbsthilfegruppe am Hochrhein, um Betroffene zu unterstützen?

Vor Corona haben wir Koch- und Backkurse angeboten. Wir haben aber aktuell keine strikt glutenfreie Küche mehr, die dieses Angebot erst möglich macht. Außerdem organisieren wir Online-Seminare, etwa um Eltern mit betroffenen Kindern den Einstieg ins Thema zu erleichtern.

Die lokale Gruppe plant auch Stammtische. Was steht dem bisher denn noch im Weg?

Wir suchen ein passendes Restaurant, das tatsächlich strikt glutenfreie Mahlzeiten servieren kann. Das wäre schön, um zusammenkommen zu können und uns regelmäßig auszutauschen. Speziell für Kinder ist die Erkenntnis wichtig, dass es noch andere Andersesser gibt. Gastronomen, die sich das vorstellen können, dürfen sich gerne jederzeit bei mir melden. Wir würden uns sehr freuen!

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