Am 24. Februar 2022 begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Die Menschen dort wachten an jenem Tag in einer neuen Realität auf. Besonders Frauen mussten sich entscheiden, ob sie in dem vom Krieg gebeutelten Land bleiben oder ins Ausland fliehen sollten.

Zwei von acht Millionen, die ins Ausland flüchteten

Fast acht Millionen Ukrainer flüchteten über die Grenzen, davon etwas über eine Million nach Deutschland. So auch Olena Stepura und Oksana Kravtsova. Die beiden Frauen sind mit ihren Kindern in Murg untergekommen.

Die Familie von Oksana Kravtsova während eines russischen Angriffs auf ihre Heimatstadt Tschernihiw. Im Hintergrund sind Rauchschwaden ...
Die Familie von Oksana Kravtsova während eines russischen Angriffs auf ihre Heimatstadt Tschernihiw. Im Hintergrund sind Rauchschwaden nach einer Explosion zu sehen. Oksana Kravtsova lebt heute mit den beiden Kindern in Murg, ihr Mann ist weiter in der Ukraine. | Bild: Oksana Kravtsova

Im Gespräch mit dem SÜDKURIER schildern sie, wie sie den Krieg erlebt haben, was sie zurücklassen mussten und auf welchen Wegen sie nach Deutschland kamen.

Olena Stepura: Die Flucht

Olena Stepura kommt aus der Nähe von Cherson in der Südukraine und ist Mutter von fünf Kindern. Vor ihrer Flucht arbeitete sie für die gemeinnützige Stiftung Gavrosh.

Olena Stepura zusammen mit ihren drei jüngeren Kindern in ihrem Haus in der Nähe von Cherson gelegenen Haus. Es ist inzwischen zerstört.
Olena Stepura zusammen mit ihren drei jüngeren Kindern in ihrem Haus in der Nähe von Cherson gelegenen Haus. Es ist inzwischen zerstört. | Bild: Archiv Olena Stepura

Am 24. Februar des vergangenen Jahres wurde Olena Stepura um 4 Uhr morgens von ihrem Mann geweckt. Er berichtete, dass Russland ihr Land überfallen hatte. Nur vier Stunden später sei die Region zwischen dem Fluss Dnipro und der Halbinsel Krim von der russischen Armee besetzt gewesen.

Der 17-jährige Sohn bleibt bei der Großmutter zurück

Noch ganze drei Wochen versuchten Olena Stepura, ihr Mann und die Kinder mit dem, was sie im Haus hatten, durchzuhalten. Doch dann ging die Medizin für die an Epilepsie und Lähmung erkrankten Kinder aus.

Die Mutter entschied sich, mit den beiden neunjährigen Zwillingsbuben und dem siebenjährigen Mädchen nach Westen zu fliehen. Ihren ältesten Sohn (17) konnte sie aufgrund dessen Autismus nicht mitnehmen und ließ ihn deshalb in der Obhut der Großmutter zurück. Die verheiratete 21-jährige Tochter blieb zusammen mit ihrem Mann in Lviv.

Olena Stepura und ihr 17-jähriger Sohn. Er ist Autist, weshalb sie ihn bei ihrer Mutter zurückließ. Seit einem Jahr ist die Familie ...
Olena Stepura und ihr 17-jähriger Sohn. Er ist Autist, weshalb sie ihn bei ihrer Mutter zurückließ. Seit einem Jahr ist die Familie getrennt. | Bild: Archiv Olena Stepura

Olena Stepura berichtet von der Flucht übers Schwarze Meer: „Wir mussten uns auf dem Boot stundenlang ganz leise verhalten, da ständig russische Militärboote um uns herum waren. Es gab Kämpfe und sie haben auf die Hafenstadt Mikolajew geschossen. Die Angst, die wir hatten, entdeckt zu werden, war unbeschreiblich.“

Maria Fritz holt die Familie im Auto von Lviv nach Murg

Schließlich seien sie in Otschakiw, einer zwischen Odessa und Cherson gelegenen Hafenstadt, an Land gegangen und von dort aus weiter in die Westukraine nach Lviv gefahren. Dort habe sie Maria Fritz vom Kinderhilfswerk Ukraine getroffen. Der Kontakt sei über ein Netzwerk von Müttern mit kranken Kindern zustande gekommen. Fritz brachte die Mutter und die Kinder mit ihrem Auto nach Murg.

Hier leben Olena Stepura und ihre Kinder zusammen mit etwa 30 anderen Menschen aus der Ukraine im ehemaligen Kinderheim Doll.

Was wird aus Olena Stepuras ältestem Sohn?

Olena Stepura hat sich bemüht, ihren ältesten Sohn und ihre Mutter nachzuholen, wie sie sagt. Sie erzählt, dass die russischen Besatzer ihn aber in eine Einrichtung für behinderte Kinder gebracht und seine ukrainischen Dokumente durch russische ersetzt hätten.

Einem Bericht des Yale Humanitarian Research Lab zufolge – einer Gruppe von Lehrkräften und Studenten, die sich mit der Erforschung und Bewältigung humanitärer Krisen beschäftigt – teilen mindestens 6000 ukrainische Kinder das Schicksal, in russischen Gewahrsam gezwungen worden zu sein.

Damit sei es schwierig für Olena Stepura, ihr Kind nach Deutschland zu holen. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, mein Kind eines Tages wiederzusehen“, sagt sie. Sie musste auch erfahren, dass ihr Haus in der Ukraine von russischen Soldaten zerstört worden ist. „Sie brennen alles ab und lassen nichts übrig.“

Während sie berichtet, fließen Tränen. Die Erlebnisse wühlen sie emotional immer noch stark auf.

Oksana Kravtsova: Die Flucht

Ähnliches erleben musste Oksana Kravtsova, Mutter von zwei Kindern. Sie kommt aus Tschernihiw, einer Großstadt in der Nordukraine, nur 50 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Sie arbeitete dort als Kunstlehrerin.

Oksana Kravtsova und ihre beiden Kinder haben in Niederhof in einem Privathaushalt eine Unterkunft gefunden.
Oksana Kravtsova und ihre beiden Kinder haben in Niederhof in einem Privathaushalt eine Unterkunft gefunden. | Bild: Archiv Oksana Kravtsova

Der Krieg hat sie auf dem Luftweg erreicht. Von Anfang an habe die russische Luftwaffe zivile Ziele bombardiert, sagt Oksana Kravtsova. Ihre Kinder seien davon traumatisiert und erschreckten sich bis heute, wenn sie Flugzeuge sähen oder hörten.

Eine russische Rakete schlägt ein

Oksana Kravtsova verbarrikadierte sich mit ihrem Mann und den beiden Kindern (7 und 10) für einen halben Monat im Keller. Dann sei ein Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft von einer russischen Iskander-Rakete getroffen worden, berichtet sie. Das war das Zeichen für sie, die Flucht anzutreten, wie sie sagt.

Ein in der Nachbarschaft von Oksana Kravtsova durch Raketen zerstörtes Haus. Nach diesem Angriff beschloss die Mutter sich zur Flucht ...
Ein in der Nachbarschaft von Oksana Kravtsova durch Raketen zerstörtes Haus. Nach diesem Angriff beschloss die Mutter sich zur Flucht mit ihren beiden Kindern. | Bild: Oksana Kravtsova

Wie auch Olena Stepura musste Oksana Kravtsova ihren Mann zurücklassen, da die Männer möglicherweise zur Landesverteidigung beitragen müssen. Bis jetzt seien sie zwar nicht eingezogen worden, aber die Möglichkeit eines Kriegseinsatzes ihrer Männer treibt die Frauen um.

Eine explodierende Granate verletzt den kleinen Sohn

Über Umwege und in einem mit 30 Personen vollgestopften Laster fliehen Oksana Kravtsova und ihre beiden Kinder nach Kyiv. Kaum Luft zum Atmen habe es in dem Fahrzeug gegeben.

Auf der Flucht wurde der Sohn von Oksana Kravtsova leicht verletzt, als eine Granate in unmittelbarer Nähe explodierte. Von Kyiv aus kam die Familie in einem ebenfalls überfüllten Zug an die Grenze und weiter nach Hamburg.

„Am Bahnhof in Hamburg hatte ich dann Blickkontakt mit einer deutschen Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sabine Stein hat mich und die Kinder – ohne lange zu überlegen – mit zu sich nach Hause nach Niederhof genommen. Dort wohne ich bis heute. Ich bin ihr unendlich dankbar“, erzählt Oksana Kravtsova.

Die Frauen finden sich in Deutschland inzwischen gut zurecht

Die beiden ukrainischen Frauen loben die Hilfsbereitschaft und Solidarität, mit denen ihnen auf der Flucht begegnet wurde und wird.

Oksana Kravtsova zeichnet in der Waldshuter Kaiserstraße bei einem Fest zum ukrainischen Unabhängigkeitstag Portraits. Sie hat in der ...
Oksana Kravtsova zeichnet in der Waldshuter Kaiserstraße bei einem Fest zum ukrainischen Unabhängigkeitstag Portraits. Sie hat in der Ukraine als Kunstlehrerin gearbeitet. | Bild: Archiv Oksana Kravtsova

Sie finden sich in der Fremde mittlerweile besser zurecht und besuchen Deutschkurse. Sie verbringen viel Zeit damit, Kontakt zur Heimat zu halten und die Nachrichten zu verfolgen.

Rückkehr ist das Ziel

Aber sie vermissen ihre Heimat und planen fest, eines Tages zurück in die Ukraine zurückzukehren, wie sie sagen. „Wir glauben an den Sieg unseres Landes“, sind sich die Frauen einig.

Ein in Tschernihiw wurde von einer russischen Rakete zerstörtes Gebäude.
Ein in Tschernihiw wurde von einer russischen Rakete zerstörtes Gebäude. | Bild: Oksana Kravtsova

Grund für ihre Zuversicht ist der Widerstand der ukrainischen Armee und die Hilfe der westlichen Partner, die aber nicht nachlassen dürfe: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite. Es gibt keine andere Option als den Sieg.“