St. Blasien – Keiner der Gäste im Auditorium vermochte sich diesem Sog, dieser unglaublichen Intensität zu entziehen. Alexander Krichel lebt mit der Musik, die er interpretiert, geht völlig in ihr auf, spürt jeder Regung, jeder Emotion derart vollkommen nach, dass man stellenweise beinahe Angst um ihn bekommen könnte. Beim Spiel offenbart er zudem eine solche Bravour und virtuose Meisterschaft, dass kein noch so atemberaubender Fingerlauf, keine noch so geballte Klangstruktur ihn auch nur einen Hauch von seinem Interpretationsansatz abzubringen vermögen. Hinzu kommt, dass er sich auch mit dem kompositorischen Umfeld der Werke intensiv beschäftigt hat, sodass schon seine erklärenden Vorbemerkungen den Hörer in seinen Werkkosmos gleich mit hineinnehmen, ihn optimal für das Hörerlebnis öffnen.
In Gestalt des „Nocturne“ op. 27/2 begann Krichel mit einem weichen, verträumten Chopin, der dem Klangfarbenklischee dieses Komponisten vollkommen entsprach, wobei er die Girlanden der Melodieführung durch leichte Temposchwankungen und Verzögerungen der Zieltöne noch stärker emotional auflud und den schwelgerischen Schönklang durch zarte, dennoch deutlich konturierte Klangtupfer verstärkte.
Chopins „Ballade“ outete Alexander Krichel als Programmmusik mit der Erzählung von einem Magier, der Jungfrauen in Seerosen verzaubert, um sie vor einfallenden Soldaten zu schützen, als Hintergrund. Tatsächlich weicht der ruhige Erzählton des ersten Themas einem heftigen Ansturm des zweiten, um sich nach dem abrupten Abbruch auf dem Höhepunkt der wellenförmig sich immer stärker auftürmenden Angriffe in einer ganz kurzen Reminiszenz des Beginns aufzulösen.
Zur sogenannten „Trauersonate“ Chopins, deren dritter Satz den weltberühmten Trauermarsch enthält, stellte Krichel einen Bezug zum Aufbau eines Shakespearedramas her, den Chopin selbst wohl seinen Schülern mündlich weitergegeben hat. Demnach steht am Beginn ein den Entscheidungsprozess des Helden überlagernder Schicksalsspruch, der zweite Satz spiegelt den mit dem Tod des Helden endenden Kampf, und die Laufkaskaden des vierten Satzes im Anschluss an den Trauermarsch könnten den Geist des toten Helden darstellen.
In der Suite „Des Cloches sonores“ des Rumänen George Enescu treffen romantischer Aufschwung, impressionistische Farbigkeit und die Auseinandersetzung mit der Formensprache barocker Tanzsätze aufeinander. Wie ein impressionistischer Klangrausch wirkte die Toccata zu Beginn, weiche Arpeggien und stark an Debussy erinnernde schweifende Melodik prägten die Sarabande. Wie aus kleinen Rinnsalen, Tropfen und kessen Strudeln sich nährende Wasserspiele klang unter Krichels magischen Händen die Pavane, und bei der Farbigkeit der abschließenden Regenbogenkaskaden wurde wohl jeder Hörer zum Synästhetiker. Einen ganz anderen, kraftvoll forschen Charakter bildet dagegen der letzte Satz, eine Bourrée, aus.
Nach deren furiosem Schluss wäre eigentlich eine weitere Steigerung undenkbar gewesen, wäre nicht Alexander Krichel am Flügel gesessen. Der nämlich schaffte diese Steigerung im wahrsten Sinn des Wortes spielend mit Maurice Ravels auf drei Schauergeschichten basierendem „Gaspard de la Nuit“, zu dem Ravel sich in einem Brief selbst dahingehend äußerte, er habe es geschafft, das schwerste Stück für Klavier zu schreiben, das je geschrieben wurde.
Hier übertraf auch Krichel sich selbst mit dem Tongemälde des unablässig um die betörende Melodie der Wassernixe kreisenden Flirrens des Wassers und den schwer lastenden im Wechsel mit lichten Akkorden rund um einen ostinaten, also das ganze Stück über präsenten Ton, der einen Galgen symbolisieren soll.
Endgültig aber erbebte der ganze Saal bei der ungeheuren Wucht des abschließenden Hexenkessels, den Krichel im Porträt eines nächtlichen Kobolds entfaltete. Da half zur Beruhigung schließlich nur noch die Zugabe, das ausdrucksvolle letzte Nocturne Chopins.