Reinhard Valenta

Was Kriegserfahrungen angeht, sind die Eheleute Irmgard und Winfried Baumgartner aus Öflingen durchaus typisch für viele Menschen ihrer Generation, die an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen sind. Bombardements oder direkte Kriegshandlungen gab es hier kaum. Den Einmarsch der Franzosen haben sie auch nicht bewusst erlebt. Entweder waren sie noch nicht geboren oder so jung, dass sie sich nicht erinnern. Und dennoch ragen die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs auf eine sehr persönliche Weise immer noch in ihr Leben.

So war Winfried Baumgartners Vater Otto der letzte Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft in Glashütten/Todtmoos. Die dicke wattierte Jacke, die er 1949 trug, als er endlich wieder zu Hause war, wurde von seinem Sohn als Erinnerungsstück aufbewahrt. Immerhin hatte sie dem Vater im eiskalten russischen Winter das Leben gerettet.

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Nicht weniger eindrücklich sind zwei Briefe, die Irmgard Baumgartner von ihrem Vater Alfons zu treuen Händen erhielt. Vielen älteren Öflingern ist der Name des 1982 verstorbene Alfons Keser als Inhaber eines Malergeschäfts noch geläufig. Es war sein Wunsch, dass die Erinnerung an die beiden Weltkriege nicht verloren geht. Diese beiden Briefe schildern ungeschminkt und frei von Propaganda, was Krieg wirklich bedeutet.

„Von morgens bis abends unter Granatbeschuss“

Der erste stammt von Leonhard Keser und wurde am 22. Februar 1915 an seinen Bruder Otto von der Front nach Öflingen geschickt. Otto (Irmgard Baumgartners Opa) war in den 1920er Jahren Ortsjugendhelfer und wurde Gemeinderechner in Öflingen. Sein Bruder Leonhard erfuhr in Nordfrankreich auf der Lorettohöhe das Grauen des Stellungskrieges:

„Von morgens bis abends stehen wir unter Granat und Minenfeuer. Minen, die 1 Zentner schwer sind, kann man bei Tag noch ausweichen (...), aber den Granaten halt nicht. Unsere Minen haben 2.40 Zentner. Unsere schwere Artillerie hat einmal in ihren Schützengraben gehauen. Da ist ein Stück Fleisch mit Unter und Oberfuß in unseren Graben rüber geflogen. Kannst dir ein Bild machen darüber, wie es zugeht.“

„Das ist kein Krieg, sondern Massenmord“

Das Schlachtfeld war übersät von Toten. „Wenn es warm wird in nächster Zeit“, schrieb er seinem Bruder, „wird es einen Geruch geben. Keiner weiß, wann seine letzte Stunde geschlagen hat. Das ist kein Krieg mehr, sondern ein Massenmord“.

„Gedenke meiner, wenn ich fallen sollte“

Ob Leonhard ahnte, dass er nur noch 19 Tage zu leben hatte? „Lieber Bruder“, heißt es am Schluss, „gedenkst auch meiner im Gebet, wenn ich fallen sollte. Sei froh und danke Gott, wenn du nicht gehen musst. Ich kann es nicht besser ausdrücken.“

Am 10. März 1915 ist Leonhard gefallen und am 15. Juni 1916 musste Otto doch „gehen“. Er hat die furchtbare Schlacht von Verdun und den Ersten Weltkrieg überlebt, aber offenbar nicht vergessen. Ein Brief seines Sohnes Alois aus der Hölle von Stalingrad legt diesen Gedanken nahe.

Otto Kesers Söhne Alois und Alfons wurden beide eingezogen, als der Zweite Weltkrieg begann. Während Alfons Einsätze an der Krim und in Griechenland überstand, musste Alois in Stalingrad kämpfen. Alois war ein lebenslustiger, blendend aussehender und frisch verheirateter junger Mann. Er spielte gern Harmonika und wirkte bei den Theaterstücken der katholischen Gemeinde mit. Aber das tat im Inferno Stalingrads nichts zur Sache.

Alois Keser vor dem Krieg.
Alois Keser vor dem Krieg. | Bild: Familienarchiv Baumgartner

Propaganda liefert Zerrbild der wahren Situation

Kurz vor Weihnachten, am 19. Dezember 1942, schrieb er seinen Eltern. Dass die NS-Propaganda ein Zerrbild der wahren Situation lieferte, deutete er an: „Wenn Ihr den Wehrmachtsbericht verfolgt und dabei die Geschehnisse vom großen Donbogen und zwischen Don und Wolga betrachtet, so werdet Ihr auch zwischen den Zeilen lesen können, besonders Du, lieber Vater“. Alois vertraute offensichtlich auf den kritischen Verstand und die Kriegserfahrungen seines Vaters.

Alois Keser wurde im Zweiten Weltkrieg eingezogen und starb Anfang 1943 im Inferno von Stalingrad.
Alois Keser wurde im Zweiten Weltkrieg eingezogen und starb Anfang 1943 im Inferno von Stalingrad. | Bild: Familienarchiv Baumgartner

„Eine Sau bei Euch hat es 10 mal besser als wir“

Wie verzweifelt die Situation angesichts der eisigen Kälte und des Aufmarschs der gewaltigen russischen Streitmacht wirklich war, entnehmen wir folgender Stelle: „Eine echte Kriegsweihnacht, nur 2 kleine dünne Stückchen Brot am Tag. Eine Sau bei Euch hat es 10 mal besser als wir. Hoffentlich geht alles gut vorbei.“ Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Alois Keser sah nie mehr seine Heimat und gilt als vermisst.

Irmgard und Winfried Baumgartner wünschen sich, dass wir auch heute das Leid zweier Weltkriege nicht vergessen und den Frieden bewahren. Dann wären diese beiden Briefe nicht umsonst geschrieben worden.