Wer zuletzt, als die Tage kürzer und die Nächte immer kälter wurden, in der Allensbacher Filiale der Bezirkssparkasse Reichenau abends Geld abheben wollte, begegnete dabei einem Gast. Gleich hinter der gläsernen Schiebetür lag er: Michael Gawol. Das warme und trockene Foyer war für den 77-Jährigen der perfekte Ort, um die Nacht zu verbringen. Das Leben auf der Straße hatte der Rentner erst in diesem Sommer gewählt, doch nun hat er genug davon.

Die Tage in der Sparkasse sind jetzt aber vorbei. Mit einer Partnerin suche er eine gemeinsame Wohnung in Singen, sagt Gawol, der sich vor ein, zwei Jahren nie hätte träumen lassen, überhaupt einmal ohne Dach über dem Kopf dazustehen.

Nach der Scheidung geht es an den geliebten Bodensee

Als freier Handelsvertreter verdiente er in Schwaikheim vor den Toren Stuttgarts sein Geld. „Ich habe früher schöne Zeiten erlebt. Wir waren viel unterwegs in ganz Deutschland“, erinnert er sich. 1996 wurde Gawol krank. Burnout und Tinnitus, wie er erklärt. Fortan war er arbeitsunfähig. „Seit 2003 bekomme ich eine Rente von etwa 900 Euro“, sagt er.

Dann ließ er sich nach mehr als 30 Jahren Ehe von seiner Frau scheiden und machte Schulden. „Ich wollte weit weg von ihr“, sagt er über den nächsten Schritt, von Schwaben nach Südbaden. Aus früheren Urlauben kannte er den Bodensee, in den er sich nach eigener Aussage verliebt hatte.

Michael Gawol steht mit seinen Siebensachen an der Promenade in Überlingen. In den Bodensee hatte sich der Rentner vor vielen Jahren ...
Michael Gawol steht mit seinen Siebensachen an der Promenade in Überlingen. In den Bodensee hatte sich der Rentner vor vielen Jahren verliebt. Deshalb zog es ihn nach der Scheidung von Stuttgart aus in den Süden. | Bild: Feiertag, Ingo

„Durch die Trennung hatte ich ungefähr 10000 Euro Schulden, daher blieben mir von der Rente unter dem Strich nur noch 150 bis 200 Euro zum Leben“, sagt Michael Gawol. „Ich konnte dann irgendwann meine Hotelrechnungen nicht mehr bezahlen und kam in eine Obdachlosenunterkunft in Überlingen-Goldbach. Dort haben die Leute gekifft, hatten Probleme mit Alkohol und Gewalt.“ Ein Jahr sei er geblieben, ehe er versucht habe, wieder eine Wohnung zu finden.

„Sobald ich Goldbach als letzte Adresse angegeben habe, hagelte es nur Absagen“, erklärt der 77-Jährige. Außerdem sei es schwer gewesen, sich mit der Rente überhaupt etwas zu leisten, fährt Gawol fort, der anschließend durch die Region zog. Mal hier, mal da übernachtete. „Das Wetter war gut, und ich hatte meinen Schlafsack“, berichtet er von seinen ersten Tagen auf der Straße.

Im Kloster Hegne gefällt es Michael Gawol

An den meisten Orten wurde er wieder weggeschickt. In Allensbach jedoch blieb er länger, da fühlte er sich wohl. Nachts legte er sich in die Sparkasse und am Tag ging er nach Hegne. „Dort durfte ich duschen, habe Kleidung bekommen und sie gewaschen. Außerdem gab es Mittagessen im Kloster“, erzählt Gawol, der noch immer von den Schwestern und Ehrenamtlichen schwärmt, die „mir viel geholfen haben, auch moralisch“.

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Außerdem hätten sie „geguckt, dass ich ordentlich daherkomme“, sagt der gepflegt wirkende 77-Jährige mit dem grauen Kinnbart. Er trägt einen schwarzen Mantel, dunkle Jeans, warme Schuhe, blauen Schal und eine dunkle Brille. In der Tasche, die er immer dabei hat, sind neben „ein paar Klamotten und einer Decke auch Zahnbürste und Rasierer“. Darauf legt er großen Wert. „Ich habe oft gehört: So wie du aussiehst, gehörst du nicht auf die Straße“, sagt er über seine Zeit am Gnadensee.

Die Zeit in Allensbach genießt der Obdachlose

Überhaupt die Allensbacher. „Alle haben sehr positiv auf mich reagiert, ich bin nie angepöbelt worden“, sagt er. „Manche haben mir etwas zu Essen gebracht. Alle waren so offen. Das hätte ich nicht erwartet. Es gibt halt doch noch liebe Menschen, die helfen, wenn jemand in arger Not ist.“ Tagsüber genoss er die Sonne und abends den Sonnenuntergang am See. „Das war herrlich, da konnte ich mich erholen“, erinnert Gawol sich.

Wenn es dunkel wurde, ging er mit seinen Siebensachen ins Nachtlager im Automatenbereich der Sparkasse und machte es sich gemütlich. „Zwischen 4 Uhr und 4.30 Uhr bin ich dann wieder raus. Ich wollte niemanden stören, wenn morgens die Leute kommen“, sagt er. Auch die Sparkasse schreibt, dass Gawol „sich zu keiner Zeit straffällig verhalten hat. Er hat die Filiale weder verschmutzt, noch Einrichtungsgegenstände zerstört.“

Einige Kunden der Sparkasse haben Angst vor dem Gast

Dennoch hätten sich Kunden gemeldet, „die sich nachts nicht mehr in die Filiale trauten oder sich beim Geldabheben unsicher fühlten und uns baten, zu handeln“, wie es weiter heißt. So wurde der nächtliche Gast zunächst gebeten, sich dort nicht mehr aufzuhalten. Da er dieser Aufforderung nicht nachgekommen sei, wurde ein förmliches Hausverbot erteilt, schreibt die Sparkasse.

Michael Gawol selbst hegt keinen Groll. Es sei ohnehin seine letzte Nacht in Allensbach gewesen, sagt er. Mit einer Freundin, die als Altenpflegerin arbeite, suche er eine gemeinsame Wohnung in Singen. „Als ich sie vor einiger Zeit kennen gelernt habe, da wusste ich, dass ich nicht lange auf der Straße bleiben würde“, sagt Gawol, der die Schnauze voll hat vom Leben ohne Bleibe. „Es wird nasskalt, und tagsüber weiß ich auch nicht, was ich machen soll“, sagt er.

Für das Jahresende hingegen hat er ein festes Ziel im Auge: „Gemeinsam Weihnachten feiern und hoffentlich nie mehr auf der Straße landen.“