Ella Rothmund beobachtet oft von ihrem Fenster aus, was sich beim alten Gasthaus Adler tut. Die 85-Jährige wohnt seit ihrer Geburt genau gegenüber in der Radolfzeller Straße im Allensbacher Ortszentrum. „Ich muss immer wieder schauen, was kommt“, erklärt sie. Und: „Ich muss ehrlich sagen: Wenn ich rüber schau‘, tut‘s mir weh, dass er abgerissen wird. Ich denke: Oh Gott, oh Gott, jetzt ist es so weit.“ Erinnerungen an längst vergangene Tage kurz vor dem Abriss.
Im Sommer seien es genau 40 Jahre her, seit der Adler geschlossen wurde, berichtet Ella Rothmund über den für sie damals überraschenden Tod des langjährigen Wirts Franz G. im Jahr 1984 „Er war noch am Morgen in der Wirtschaft“, erinnert sie sich. Mittags sei er dann plötzlich gestorben. „Und dann ist die Wirtschaft zu gewesen – für immer. Es war schade, dass der Adler mitten im Dorf nicht mehr war“, so die 85-Jährige. Und der gleichaltrige Herbert Ehinger, der ein Stückchen weiter an der Radolfzeller Straße wohnt, fügt an: „Man hätte sich gewünscht, dass es weitergeht.“ Wobei Stefan Egenhofer, der sich schon seit Jahrzehnten mit der Allensbacher Heimatgeschichte befasst, schmunzelnd anmerkt: 20 Jahre lang sei am Adler „vorübergehend geschlossen“ angeschrieben gewesen.
Eins der letzten Traditionshäuser
Der Adler war neben dem Löwen und der Eintracht, die bereits vor mehr als 20 Jahren abgerissen wurden, eines der Traditionsgasthäuser in Allensbach. Das heutige Gebäude wurde im Ursprung in den 1860er-Jahren errichtet und später einige Male aus- und umgebaut. 1949 übernahm der gelernte Metzger Franz G. das Gasthaus mit Nebenzimmer, Saal und Übernachtungszimmern. Ella Rothmund erklärt: „Ich bin hier geboren und aufgewachsen – und immer mit dem Adler. Wir haben 1965 unsere Hochzeit im Adler gefeiert. Wir hatten eine riesengroße Hochzeit, wir hatten fast keinen Platz.“ Der Kirchenchor sei dabei gewesen, weil sie dort sang, Verwandte, Nachbarn, Kollegen. Und von der Musikkameradschaft Langenrain seien auch noch Musiker gekommen und hätten gespielt, erinnert sich die 85-Jährige.
Später hätten sie und ihr Mann Siegfried dort auch an den weißen Sonntagen ihrer Kinder gefeiert. „Wir haben das halt in der Nachbarschaft gemacht. Wir hatten eine gute Nachbarschaft. Der Adler-Wirt war ein guter Mann“, sagt die Allensbacherin. Sie und ihr Mann seien auch sonst oft dort eingekehrt, erzählt Ella Rothmund: „Die Wirtschaft war immer gut. Das Essen war gut und der Stammtisch.“ Und auch an der Fasnacht habe sie dort gern gefeiert, beim Kappenabend mit Zwei-Mann-Kapelle am Samstag. „Das war immer schön.“
Einstieg in den Männerchor
Herbert Ehinger berichtet, er sei über den Adler zum Männerchor gekommen, 1956 mit 18 Jahren. Er sei mit ein paar Freunden in Konstanz im Kino gewesen und auf dem Heimweg vom Bahnhof am Adler vorbei gekommen. Der Becher Bier habe damals 35 Pfennige gekostet, das habe man sich als junge Leute nach dem Kino gerade noch leisten können. Im Adler habe der Männerchor seinen Kameradschaftsabend mit Rehessen gehabt, weiß der 85-Jährige noch. Da seien sie hinein und hätten einfach beim Chor mitgesungen. „Wenn ein neuer Sänger kam, hat er damals ein Einstandsbier bekommen, das war ein Lockmittel“, berichtet Herbert Ehinger schmunzelnd.
Der Männerchor habe viele Jahre im Nebenzimmer des Adlers seine Proben abgehalten. „In der Singstunde wurde früher immer noch bewirtet. Die Alten wollten das“, so der 85-Jährige über die Gewohnheiten der damals schon etwas älteren Sänger. Das habe dann zwar später der Dirigent abgeschafft und gesagt: Wir machen eine Pause, dann könnt ich was bestellen. Doch: „Nach der Probe ist man noch ein bisschen abgehockt“, so Herbert Ehinger. Die jungen Sänger hätten nicht zu den älteren sitzen dürfen.
Manche der älteren Mitglieder seien auch schon vor der Probe am Stammtisch gesessen – und danach dann wieder. Und wenn es sehr spät geworden sei, habe der Wirt zum Rauswurf in die Hände geklatscht und den Spruch gesagt: „Meine Herren, Feierabend, Feierabend. Der Wirt ist müde. Morgen stehe ich wieder allein hier.“ Heimathistoriker Stefan Egenhofer weiß als Anekdote noch, dass die Wirtin etwas knauserig und das Bierglas deshalb nicht immer ganz voll gewesen sei. Bei Beschwerden habe sie lediglich gesagt: „Schaum ist auch Bier.“
Das ein oder andere Feierabendbier
Herbert Ehinger erzählt, er sei auch sonst gern öfter mal auf ein Feierabendbier in den Adler. „Das lag erstens am Weg. Und da sind immer schöne Mädle gewesen“, erklärt er lachend. Auch seine drei Jahre ältere Frau Lydia habe er dort kennengelernt. Sie habe damals einige Monate als Zimmermädchen im Adler gearbeitet, aber dann aufgehört, als sie schwanger wurde, so der 85-Jährige. Seine Frau habe dann dort später noch stundenweise ausgeholfen. Die weißen Sonntage der drei Kinder habe man im Adler gefeiert. Und: „Wir sind viel in der Wirtschaft gesessen.“
Von den Preisen und der Qualität sei es im Adler ähnlich wie in den anderen alten Gasthäusern gewesen, so Herbert Ehinger. Das Essen sei gut gewesen, aber die Speisekarte natürlich damals nicht so riesig wie heute in vielen Lokalen. Eine Suppe vorneweg und dann Schnitzel oder Braten, aber keinen Nachtisch. „Da gab es nicht einmal ein Eis.“ Natürlich habe es Wurstsalat gegeben oder eine angebratene Scheibe Fleischkäse. Der Klassiker sei heiß gemachter Schübling mit Kartoffelsalat gewesen. Und irgendwann sei dann Hähnchen in Mode gekommen, auch im Adler. Daran kann sich auch Ella Rothmund erinnern: „Da waren dann alle verrückt danach.“
Dass der Adler nun abgerissen wird, können sie bei aller Wehmut durchaus verstehen, erklären Ella Rothmund und Herbert Ehinger – nachdem das Gasthaus nun schon so lang geschlossen war. Die Sparkasse Reichenau will an dieser Stelle bekanntlich eine neue Filiale mit Wohnungen in den oberen Geschossen errichten. Zu den bisher vorliegenden Plänen sagt Herbert Ehinger: „Das ist Geschmackssache. Ich finde das neue Gebäude übertrieben.“ Aber es sei klar, dass das Grundstück gut ausgenutzt werden soll. Wobei beide der Ansicht sind, es wäre sinnvoll, das Nebengebäude auch gleich abzureißen. Das steht allerdings unter Denkmalschutz. Ella Rothmund hofft: „Vielleicht wird‘s schön saniert.“ Und sie könne vom oberen Stock ihres Hauses wenigstens auch künftig darüber hinweg schauen. „So sehe ich weiter auf die Reichenau und in die Schweiz. Das genieße ich – bei schönem Wetter.“