Frau Appel, was hat Sie als Germanistin und Theaterwissenschaftlerin bewogen, die wissenschaftliche Leitung im Jüdischen Museum Gailingen zu übernehmen?
Reizvoll erschien mir insbesondere die breite Aufgabenvielfalt der ausgeschriebenen Stelle in einem überregional ausstrahlenden Museum. Jüdische Geschichte ist ein überaus vielgestaltiges und vielstimmiges Thema. Sie erzählt von Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung, aber auch von Emanzipation, Toleranz und konstruktivem Miteinander.
Haben Sie neue Impulse gesetzt?
Mein persönliches Ziel ist es, das Jüdische Museum Gailingen weiter zu einem lebendigen Erinnerungs- und Begegnungsort für Menschen aller Generationen und Kulturen auszugestalten. Austausch, Teilhabe und Interaktion stehen im Zentrum. Die Basis für diese Zielorientierung bilden eine qualitativ gute, innovative museumspädagogische Vermittlungsarbeit, ein spartenübergreifendes Veranstaltungsangebot und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Museumssammlung.
Spielt der Bezug jüdischer Geschichte zu den aktuellen Geschehnissen für Sie eine große Rolle?
Ja. Regionale jüdische Spuren der Vergangenheit erfordern ihre Vermittlung in gegenwärtige Erfahrungswelten. Vergangenheit und Gegenwart in Zwiesprache zu bringen, ist einer der wichtigen und sichtbaren Impulse meiner Museumsarbeit.
Orientiert an einem interkulturellen und kulturhistorischen Ansatz möchte ich im Museum verschiedene Sichtweisen auf jüdische Kulturgeschichte vermitteln, aktuelle Zeitbezüge herstellen und damit zu Diskussion, Wahrnehmungserweiterung und Demokratiebewusstsein anregen.
Wie sieht das konkret aus?
Wir haben unser Führungsangebot mit weiteren Überblicks- und Themenführungen vergrößert, Kunstworkshops für Kinder und Erwachsene organisiert. In den historischen Räumen des jüdischen Ritualbads gab es 2024 die moderne Kunstausstellung „Eintauchen“. Fesselnd für ein großes Publikum war gerade zum Holocaust-Gedenktag die Theaterinszenierung der Tagebücher des jüdischen Gailinger Oberschülers Heinz Heilbronn durch die Theater-AG des Hegau-Gymnasiums Singen.
Sie bemühen sich also um Kinder und Jugendliche?
Junge Menschen, Kinder und Heranwachsende mit Quellenmaterial oder Exponaten an die regionale jüdische Geschichte heranzuführen, liegt mir besonders am Herzen. Im Museum können sie sich mit Ritualen und Traditionen jüdischen Lebens vertraut machen und der fast 300-jährigen jüdischen Geschichte vor Ort folgen. Zeitzeugenberichte von ehemals jüdischen Gailinger Bürgern veranschaulichen die regionale Geschichte und ermöglichen ein authentisches Erleben von Vergangenheit.
Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
Um unsere Dauerausstellung den Sehgewohnheiten einer jungen Generation und damit moderner Mediennutzung anzupassen, bedarf es einer moderaten Überarbeitung der Ausstellung. QR-Codes mit Audios und Filmausschnitten zur Erweiterung des museumspädagogischen Angebots sind in Planung. Die Dauerausstellung und Archivalien sollten wissenschaftlich dokumentiert und digitalisiert werden, damit sie weiterer Forschung und Vermittlungstätigkeit besser zugänglich gemacht werden können.
Persönlich ist mir die Kontaktpflege zu den Nachfahren ehemals jüdischer Gailinger Bürgerinnen und Bürgern ein großes Anliegen. Auch hier hat mein Vorgänger Joachim Klose großartige Arbeit geleistet. Wir versuchen, die geknüpften Fäden aufzunehmen und weiterzuverfolgen, das braucht Zeit.
Der Antisemitismus hat in ganz Europa zugenommen. Erleben Sie bei Ihren Besuchern Judenhass?
Glücklicherweise: Nein! Das Museum wird mehrheitlich von einem geschichtsinteressierten, interkulturell aufgeschlossenen Publikum besucht. Jüdische und nicht-jüdische Besucher erleben allerdings die Terror-Anschläge der Hamas am 7. Oktober 2023, die kriegerischen Konflikte im Nahen Osten und Europa und die anhaltende Polarisierung unserer Gesellschaft als tief einschneidende Zäsur.
Bei vielen Besuchergruppen ist eine große Verunsicherung und ein Rede- und Orientierungsbedürfnis spürbar. Auffällig ist auch, dass nur wenige nicht-jüdische Menschen im Alltag im Kontakt zu Jüdinnen und Juden stehen und teilweise eine etwas stereotype Wahrnehmung von jüdischem Leben haben. Hier können wir Bildungsarbeit leisten und auf die Vielfalt jüdischer Geschichte, Religion und Kultur verweisen.
Ist das Leben für Juden und Jüdinnen in Deutschland schwieriger geworden?
Ja. Aktuell berichten einige jüdische Besucher im Museum leider vermehrt von antisemitischen Anfeindungen in ihrem Alltag in Deutschland und der Schweiz. Auf der Straße verbergen manche ihre jüdische Identität, tragen die Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung, nicht offen oder achten darauf, nicht Hebräisch zu sprechen oder zu schreiben. Manche sprechen offen von Angst. Eine Entwicklung, die sehr erschreckend anmutet und mich persönlich mit großer Scham erfüllt.
Wie gehen Ihre jungen Besucher mit der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel und das Judentum um?
Das Jüdische Museum hat in einer Gegenwart voller Fakes und Fiction für junge Menschen einen hohen Beglaubigungswert. Sie stehen im ehemals jüdischen Schulhaus in den ehemaligen Wohnräumen der Rabbinerfamilie und hören vom Tod des letzten Gailinger Rabbiners im KZ Dachau. Vor dem Hintergrund des Holocausts zeigt sich in Diskussion und im Austausch mit Jugendlichen im Museum ein durchaus waches Bewusstsein von der historischen Verantwortung Deutschlands im Erinnern an und im Kampf gegen Judenhass.