Herr Böcker, Sie haben einen ungewöhnlichen Beruf. Wie wird man denn Videothekar?
Wahrscheinlich hat alles mit 14, 15 Jahren angefangen. Als ich das Clubkärtchen meines Vaters geklaut habe, damit ich als Unter-18-Jähriger schon in der Singener Südstadt in die Videothek kann (schmunzelt). Danach hab‘ ich alle Videotheken durchgemacht, die es in der Stadt gab. Das war noch zu Zeiten von VHS, Betamax und Video 2000. Mit einem guten Freund haben wir als Jugendliche Copy-Partys veranstaltet – jeder hat einen VHS-Recorder mitgebracht und dann wurde rübergezogen. Damals war das natürlich alles analog und noch legal und blieb zwangsweise im Rahmen. Professionell in die Branche eingestiegen bin ich dann 1998, als Aushilfe in einer größeren Singener Videothek. 2005 kam der Wechsel nach Konstanz im Franchise. Seit 2013 bin ich hier Inhaber meiner eigenen Videothek.
Eine mutige Entscheidung. 2013 war doch bereits klar, dass Videotheken nicht unbedingt eine rosige Zukunft bevorsteht.
Bis vor zwei Jahren hätte ich das Wort Krise nicht in den Mund genommen. Klar: Schimpfen hat man mich auch schon vorher gehört (lacht). Ein Selbstständiger, der nicht schimpft: Bei dem läuft etwas falsch.
Was war dann vor zwei Jahren der Auslöser der Krise?
Der Umzug an den Zähringerplatz. Heute kann ich sagen, dass uns das je nach Warengruppe zwischen 30 und 50 Prozent Umsatz gekostet hat. Und das obwohl wir in Petershausen geblieben sind und sich Erreichbarkeit und Parksituation aus Kundensicht eigentlich sogar verbessert haben. Das Problem war, dass wir die Zusage für den neuen Standort erst im Oktober bekamen und bereits Ende November aus den alten Räumlichkeiten raus mussten. Wir hatten also sehr wenig Zeit, um den Kunden zu vermitteln, dass wir umziehen. Wir haben damals Banner gemacht, Mailings angefertigt und die sozialen Netzwerke bespielt. Ich habe aber das Gefühl, dass die Menschheit in den vergangenen zehn Jahren verlernt hat, sich auf komplexe Zusammenhänge einzulassen. Selbst heute noch kommen Leute bei mir in den Laden und sagen: „Ach, hier seid ihr jetzt. Ich wusste gar nicht, dass es in Konstanz noch eine Videothek gibt“.
Aber hätten Sie nicht auch ohne den Umzug mit sinkenden Kundenzahlen zu kämpfen gehabt?
Fakt ist: Eine Migrationsbewegung von Videotheken hin zu Video-on-Demand-Angeboten hat kaum stattgefunden. Ein Videothekenkunde, der sich samstags eine Blu-ray ausleiht, sie abends wieder bringt und dafür zwei Euro zahlt – oder noch cleverer eine Flatrate für fünf Euro pro Monat hat, wandert dir nicht ab zu Sky, wo er für einen Film bis zu sechs Euro zahlt. Insofern ist klar, dass hier höchstens zehn Prozent der Kundschaft verloren gegangen sind. Das sind aber die, die sowieso nur zweimal im Jahr in der Videothek aufgeschlagen sind. Was unser Problem war und bis heute ist: die Klauerei. Das ging 2006 in einem massiven Ausmaß los. Vorher gab es vielleicht eine Minderheit an sehr technikaffinen Leuten, die sich Filme im Internet runtergeladen haben. Das hat sich dann in kurzer Zeit schlagartig verändert. Auf einmal war es mit ein paar Klicks möglich, an einen illegalen Stream zu kommen. Du machst dich zwar strafbar, aber so lange noch kein direkter Bekannter erwischt wird, spielt das für die Leute keine Rolle.
Wie viele Menschen schauen sich Ihrer Einschätzung nach Serien und Filme illegal im Netz an?
Ein aktuelles Beispiel ist die Serie Game of Thrones. Bei der ersten Folge der letzten Staffel hat der Sender HBO 17 Millionen legale Zugriffe weltweit verzeichnet. Die Zahl der illegalen Zugriffe in den ersten 24 Stunden nach der Ausstrahlung wird aber auf 54 Millionen geschätzt. Das bedeutet, dass die Zahl der illegalen Zuschauer bei fast 80 Prozent lag! Bei einem solchen Ausmaß hat kein Marktteilnehmer eine Gegenwehr – weder Videotheken, noch die Anbieter von Video-on-Demand.
Und trotzdem scheinen gerade Streamingdienste wie Amazon Prime und Netflix im Moment angesagter zu sein als Videotheken.
Da mache ich mir keinen Kopf. Dabei handelt es sich ja um Subscription-Video-on-Demand, also Abo-Angebote, bei denen es um alte Titel und Eigenproduktionen geht. Im Kern sind das zwei Fernsehsender. Und ob es 80 Fernsehsender gibt oder 82 macht den Kohl nicht fett. Klar hat der Nutzer bei Netflix und Amazon Prime die Freiheit zu bestimmen, wann er sich etwas ansieht- aber theoretisch ist das bei der ZDF-Mediathek ja nicht viel anders. Auch beim Thema Aktualität müssen wir uns als Videothek vor den Streamingdiensten nicht verstecken. Wir haben hier die Neuheiten der letzten zwei Jahre in Kopientiefe. Die sind in einem Amazon-Prime- oder Netflix-Abo so gut wie gar nicht enthalten. Und die Vermietung von Neuheiten war und ist bei Videotheken immer noch das Kerngeschäft. Das macht ungefähr 85 Prozent aus.
Welche Titel und Genres sind bei Ihnen denn am populärsten?
Männer besetzen klassischerweise den Action-, Science-Fiction- und Fantasy-Sektor. Die Frauenwelt will eher Komödien und Dramen. Beim Thriller begegnen sich die Geschlechter dann. Generell lässt sich feststellen, dass unser Publikum eher männerlastig ist. 70 Prozent der Kunden sind Männer. Dieses Jahr waren deshalb – wenig überraschend – die Actionfilme „The Equalizer“ und „Deadpool 2“ die Titel, die bei uns am öftesten ausgeliehen wurden.

Sind Ihre Kunden heute im Durchschnitt älter als früher?
Das Durchschnittsalter der Kunden liegt bei knapp 46 Jahren. Was uns definitiv fehlt, ist die Generation, die mit dem Smartphone aufgewachsen ist. Es gab früher zwei Dinge, die du gemacht hast, sobald du erwachsen wurdest: Du hast den Führerschein gemacht und du bist in eine Videothek marschiert und hast dir deinen Ausweis abgeholt. Heute kommt die Altersgruppe 18 bis 25 nur, wenn bei ihnen zufällig mal der Groschen fällt. Zum Beispiel, wenn die Techniker beim Umzug gesaubeutelt haben und die jungen Leute plötzlich kein Internet haben. Dann stehen sie auf einmal bei uns im Laden. Interessanterweise verliert man diese Kunden danach nicht mehr. Aber man braucht eben eine Sondersituation, damit sie überhaupt reinschneien.
Der Großteil der Menschen, die in Ihren Laden kommen, interessiert sich wahrscheinlich eher für den Paketabholservice, den Sie sich hier als zweites Standbein aufgebaut haben, als für die Videothek selbst.
Richtig. Wir haben uns durch das Paketgeschäft eine Gegenfinanzierung aufgebaut und sind deshalb unabhängig von saisonalen Schwankungen. Die Fixkosten kommen rein. Ich sehe das so: Je mehr der Einzelhandel unter dem Internet leidet, desto mehr profitiere ich auf der andere Seite vom Online-Handel über das Paketgeschäft. Das ist nicht unbedingt schön, aber eine Kröte, die ich zu schlucken bereit bin. 80 Prozent der Leute stehen auf und gehen zu einer Arbeit, die ihnen nicht gefällt. Warum sollte es mir besser gehen? Immerhin hatte ich zehn Jahre lang den Luxus, dass ich mich jeden Morgen auf meine Arbeit gefreut habe. Jetzt bin ich halt in der Normalität angekommen. Wer vor 30 Jahren gedacht hat, wir werden als Videotheken nie in einen Wettbewerb kommen, der hat sich getäuscht. Wir sind auch gar nicht in etwas Unnatürliches hineingerutscht: Es gibt keinen Markt, der Umsatz generiert, den du alleine bearbeitest. Dem muss man sich stellen. Daimler ist ja auch nicht der einzige Autobauer, den es auf der Welt gibt.
Das klingt sehr nüchtern. Können Sie sich trotzdem noch für die Filme begeistern, die Sie hier an Ihre Kunden vermieten?
Absolut. Ich bin immer filmaffin geblieben. Besonders Fantasy und Science Fiction sind mein Ding. Sobald es ins Fantastische geht, gefällt es mir. Als Jugendlicher hab‘ ich mir auch noch Horrorfilme angeschaut. Das geht seit ich Videothekar bin leider nicht mehr. Man steht sechs Tage die Woche 12, 13 Stunden im Laden – wenn man sich da abends noch einen Film anschauen will, will man sich entspannen. Bei Horror klappt das leider nicht so wirklich.
Auf welche fünf Filme wollten Sie nicht verzichten?
Ich könnte mir jeden Star Trek Film mit Ausnahme des allerersten auch zum dreißigsten Mal anschauen, wenn er gerade im Fernsehen läuft. Ich würde beim Durchzappen auch definitiv noch bei Star Wars hängen bleiben. Den ersten Teil der Transformers-Reihe hab‘ ich auch bestimmt schon 20 Mal gesehen, weil das Abschaltkino ist und einfach Spaß macht. Auch die Matrix-Reihe geht immer. Aber, um ein bisschen vom Mainstream wegzukommen: Überrascht hat mich Equilibrium mit Christian Bale. Der war ein echtes Brett – und innovativ.
Macht Ihnen Ihr Beruf generell noch Spaß?
Weniger als früher. Ich war immer ein Endkunden-Mensch – aus der Sicht betrachtet, hab‘ ich auch kein Problem mit dem Paketgeschäft. Ich agiere gerne mit Menschen. Das Problem ist nur: Wenn bei der Zustellung geschlammpert wird bekomme ich es ab. So etwas nimmt mich stundenlang mit und das nervt auf Dauer. Mit Kunden stundenlang über Filme philosophieren: super geil. Sich mit Paketkunden streiten: weniger.
Zur Person
Mike Böcker wuchs in Singen auf, wo er heute noch lebt. In Videotheken arbeitet er bereits seit 1999 – zunächst als Halbtagskraft, später in Vollzeit. 2005 übernahm er die Videothek Medien-House Konstanz im Franchise, 2013 übernahm er sie komplett. Im November 2016 folgte der Umzug an den Zähringerplatz. In seinem Sortiment hat das Medien-House Konstanz 8500 Titel, die auf den Formaten Blu-ray, DVD und 4K-UHD verkauft und vermietet werden.