Marie lacht. Häufig und herzhaft. „Wenn alle Stricke reißen, dann kann ich mich nicht einmal mehr aufhängen“, sagt sie. Lustig? Vielleicht. Makaber? Bestimmt. Hinter dem daher gesagten Spruch steckt eine ernste Wahrheit: Marie war kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Bei der Begegnung mit dieser quicklebendigen 20-Jährigen ist das kaum zu glauben.

Weil Marie sich auch als junge Frau nicht sicher vor ihren Eltern fühlt, taucht sie in dieser Geschichte nur verfremdet auf.
Weil Marie sich auch als junge Frau nicht sicher vor ihren Eltern fühlt, taucht sie in dieser Geschichte nur verfremdet auf. | Bild: Brumm, Benjamin

„Ich habe körperliche, psychische und sexuelle Gewalt erlebt“

Doch Marie hat Gewalt erfahren, da war sie noch ein Kind. Welche Form von Gewalt? „Alle Formen“, sagt sie, „körperliche, psychische, sexuelle Gewalt.“ Durch ihre Eltern, die Marie „Täter“ nennt. Als Schuldigen für das, was geschehen ist, habe sie dagegen „nie jemanden anderen ausgemacht, sondern immer mich selbst“. Weil ihre Eltern wie Marie in Konstanz leben und sie sich auch heute nicht vor ihnen sicher fühlt, trägt sie nur hier diesen Namen.

Die Gewalt, die sie beschreibt, mündete in einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung: eine psychische Erkrankung, die unter anderem durch schwere und wiederholte Traumatisierungen in der Kindheit entstehen kann. Hinzu kommen wiederkehrende Depressionen. Bis heute, so sagt Marie, könnten gewisse Situationen „Fehlalarme in meinem Kopf auslösen“; etwa, wenn sie bei einem Stadtbummel das After Shave ihres Vaters rieche. In der Therapie wird auch der Begriff von Triggern verwendet, die vergangene Traumata ins Gedächtnis rufen.

„Das Gefühl, zum Weiterleben gezwungen zu werden, war für mich zum Verzweifeln“

Marie habe das erste Mal an Suizid gedacht, als sie zwölf oder 13 Jahre alt war, sagt sie. So erschreckend es klingt: Heute hilft ihr der Gedanke, stets eine Exit-Strategie aus dem Leben zu haben. „Das Gefühl, zum Weiterleben gezwungen zu werden, statt es zu wollen, war für mich zum Verzweifeln. Da bekomme ich Panik und wehre mich innerlich dagegen“, fasst Marie zusammen.

Das bedeutet nicht, dass man sich um sie Sorgen machen müsste. Solche Gedanken seien in der Suizidprävention ein Zeichen von Stabilität, erklärt Stefanie Rösch.

Die Traumatherapeutin Stefanie Rösch hat eine Praxis in Konstanz, führt einen Blog zum Thema Traumatisierungen und gibt Seminare unter ...
Die Traumatherapeutin Stefanie Rösch hat eine Praxis in Konstanz, führt einen Blog zum Thema Traumatisierungen und gibt Seminare unter anderem auch zur Suizidprävention. | Bild: Brumm, Benjamin

Die Notfallpsychologin und Traumatherapeutin führt eine Praxis in Konstanz und sagt: „Es bedeutet, dass man weiß, dass man eine Wahl hat, dass man sein Leben in der eigenen Hand und in der eigenen Entscheidungsgewalt hat“, sagt sie. Rösch arbeitet unter anderem mit Marie zusammen. Wer mit suizidalen Menschen zu tun hat, macht sich Gedanken über einen möglichen Abschied für immer.

Das Thema soll aus der Tabuzone geholt werden

Auch Rösch ist nicht frei davon und sagt: „Es macht mich unendlich traurig, wenn ich befürchte, jemanden nach einem Gespräch nicht mehr wiederzusehen. Zum Glück ist mir in 20 Jahren Berufspraxis bislang erspart geblieben, dass das auch geschieht.“

Rösch wie Marie haben ein Anliegen: Das Thema Suizidalität aus der Tabuzone holen. „Es ist wichtig, darüber zu reden, Berührungsängste helfen niemanden“, sagt Marie. Die Therapeutin ergänzt: „Man bringt niemanden auf die Idee, sich umzubringen, wenn man seine Befürchtungen offen anspricht.“ Das sei eine von vielen falschen Annahmen, derentwegen über Suizid nicht gesprochen werde. Tatsächlich erlebten laut Rösch Menschen, die Suizidgedanken hegen, das Ansprechen des Themas als hilfreich – nicht als übergriffig.

Wenn der Zufall oder das Schicksal dazwischenkommt

Bei Marie blieb es nicht beim Gedanken an einen Suizid. 2016 entschied sie sich endgültig gegen das Leben. Ein Abschiedsbrief war bereits geschrieben, die Methode für ihren Suizid hat sie gewählt, der Tag stand fest: ihr 17. Geburtstag. „Ich wusste, dass ich an dem Tag allein sein werde, meine Freunde waren alle weg“, sagt sie. Und dann kam schlicht der Zufall – oder das Schicksal oder das Glück – dazwischen.

Bild 3: Eine junge Konstanzerin stand einen Schritt vor dem Suizid, heute berichtet sie über ihren Weg zurück ins Leben
Bild: Brumm, Benjamin

Eine Bekannte aus der Kirchengemeinde, in der Marie aktiv ist, hatte die Idee, dass ihr zum Geburtstag einmal pro Stunde eine Videobotschaft mit Glückwünschen zugehen sollte. „Sie wusste nichts von meinen Plänen“, sagt Marie. Es stand also keine Strategie hinter der Idee der Bekannten, die damals Jugendliche in ihren Plänen aufzuhalten. „Ich konnte doch nicht sterben, bevor ich nicht alle Videos gesehen hatte“, sagt Marie heute. Weiterleben aus purer Neugier, die 20-Jährige muss beim Erzählen darüber lachen.

Erst ambulante Therapie und schließlich die geschlossene Station

Damals folgte jedoch eine Zeit, über die sie sagt, sie habe sich „so schlimm angefühlt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass das irgendjemand aushält“. Marie fühlte sich nicht mehr in der Lage zu essen, zu schlafen, jeder Teil ihres Körpers habe ständig wehgetan. Es folgten Therapien.

Ambulant zunächst, weil die Jugendhilfe dies zur Voraussetzung machte, damit sie in eine WG ziehen konnte. Schließlich – wegen der andauernden Suizidgefahr – auf der geschlossenen Station am Zentrum für Psychotherapie Reichenau (ZfP). „Eine Erfahrung“, sagt Marie über die Behandlung dort, „durch die es mir noch schlechter ging statt besser.“ Die Therapeutin Stefanie Rösch sagt, dass diese Aussage nichts mit der grundsätzlichen Qualität des ZfP zu tun habe: „Es war eben ihre individuelle Erfahrung.“

Uwe Herwig ist dort Medizinischer Direktor und bedauert, dass es Marie nach dem Aufenthalt auf der Reichenau noch nicht besser ging. „Wir bieten Schutz und Zuwendung in Krisen, wie auch therapeutische Unterstützung“, sagt er. Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass Betroffene in Krisensituationen einen Aufenthalt, der auch aus der Not erfolge, als negativ wahrnehmen.

Der Weg zu einer Besserung sei zudem oft langwierig und unterliege Schwankungen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit belastenden Lebensthemen, meint Herwig und ergänzt: „Unsere Mitarbeiter sind auf jeden Fall mit hohem Engagement stets um das Wohl und die Interessen der Patienten bemüht“, sagt Herwig.

„Erst heute lerne ich, was gesunde Beziehungen sind“

Für Maries Leben war diese Erfahrung, rückblickend gesehen, eine glückliche Fügung. „Ich habe den Tiefpunkt gebraucht, um wieder leben zu wollen“, beschreibt sie. Bis über ihren 18. Geburtstag hinweg sei sie „zuhause durch die Hölle gegangen“, habe glückliche Familien eifersüchtig beobachtet und sich selbst schuldig gefühlt, für das, was ihr angetan worden sei. „Erst heute lerne ich, was gesunde Beziehungen sind“, sagt sie.

Was empfindet sie gegenüber jenen, die ihr die Kindheit nahmen? „Ich hasse meine Eltern nicht und benötige auch keinen Hass“, sagt sie. „Ich habe eher Mitleid, weil sie bis heute nicht mit ihrem Leben zurechtkommen und mir das angetan haben.“ In ihrer Kirchengemeinde habe sie das Thema Vergebung beschäftigt.

Ob Marie dazu gegenüber ihren Eltern bereit ist? Irgendwann vielleicht, sagt sie. „Es ist nicht ausgeschlossen – jetzt kann ich es aber noch nicht.“ Stefanie Rösch erklärt: „Verantwortlich im Sinne von schuldig, sind immer die Täter. Die Betroffenen haben ihre Verantwortung, mit den Folgen leben und arbeiten zu müssen.“

Der Wunsch nach Leben setzte mit einer Liste ein

Diese Arbeit setzte für Marie ein, als sie „noch eine Sache ausprobieren wollte“, erinnert sie sich. Eine Sache, die viele Listen und Tage beinhaltete. Stefanie Rösch, mit der sie während dieses Tiefpunkts vor drei Jahren bereits in Kontakt stand, trug ihr auf: „Du schreibst jeden Tag zwei Listen. Auf die eine notierst du, wofür du dankbar bist. Auf die andere, was du selbst entscheiden kannst.“

Jeden Morgen galt es, die Liste abzuschreiben und um einen weiteren Eintrag zu ergänzen. Erst vier Wochen lang, dann 90 Tage. „Die Zeitfenster haben etwas damit zu tun, wie unser Gehirn funktioniert“, sagt die Psychotherapeutin. So entstünden zunächst neue Handlungs- und Denkmuster, die sich in einem zweiten Schritt als Automatismen festsetzen.

Automatismen, die Marie heute im Leben helfen, die sie in Kürze ein Studium beginnen lassen: soziale Arbeit in Freiburg. Anderen Menschen helfen, das passt zu der lebhaften jungen Frau.