Vier Wochen lang nicht zu saufen. Ein Kamel kann so leben. Ein ganzer Monat ohne Saufen. Für Menschen, die sich auf den Weg heraus aus ihrer Alkoholsucht machen, ist das ein erster Schritt zur dauerhaften Trockenheit.
Viele von ihnen nutzen das Kamel deshalb als Symbol, um den weiteren Weg nicht aus den Augen zu verlieren.
Zwei Konstanzer sind mithilfe der Selbsthilfegruppe Anonyme Alkoholiker bereits viele Schritte weit gekommen.
Verbunden durch die Therapie in der Selbsthilfegruppe
Beiden, eine Frau und ein Mann, ist es wichtig, nicht sich in den Vordergrund zu stellen. Sondern das, was sie durch das Programm der Anonymen Alkoholiker – kurz AA – gelernt haben. Beiden wollen außerdem, das liegt im Namen und der Natur der Sache, ihre Anonymität wahren – zum Schutz ihrer Person und ihrer Selbsthilfegruppe.
Sie beide sind um die 60 Jahre alt. Die Frau ist im schulischen Bereich tätig, auch der Mann übt einen akademischen Beruf aus. Das muss genügen, um einen Einblick in die persönlichen Verhältnisse der beiden zu bekommen. Eine Frau und ein Mann, nicht liiert, aber verbunden durch ihre Selbsthilfegruppe.
Wie viele AA-Mitglieder tragen beide die bekannten kleinen Medaillen mit sich, deren Farbe sich nach der Dauer der Trockenheit richtet. Sie sind eher Ermutigung als Auszeichnung.
Von jetzt auf gleich: Kein Alkohol statt reichlich davon
Ein Treffen auf dem Gelände des Zentrums für Psychiatrie Reichenau (ZfP). Für ihn ein besonderer Ort, hier hat er vor vielen Jahren erkannt: „Jetzt bin ich drin, hier komme ich so schnell nicht wieder heraus.“ Zweieinhalb Wochen von 100 auf Null, kein Alkohol statt reichlich davon. Ein Arztbesuch hatte zu diesem Nothalt geführt.
Sein Kater bedeutete: Delirium, Halluzinationen. „Man musste mich richtig festhalten, fixieren.“ Für die Zeit davor könne er nicht ausschließen, dass er andere Menschen im alkoholisierten Zustand gefährdet hätte. Schwer vorstellbar ist das, wenn der kräftige aber äußerst freundliche und sanftmütige Mann auf dem Friedhof auf einer Anhöhe nahe des Psychiatriezentrums über seine erste Zeit der Trockenheit spricht.
Am ZfP absolvierte er eine sechswöchige stationäre Therapie im Anschluss an den Entzug und lernte das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker kennen.
Zwanghaftes Suchtverhalten wurde kaschiert
Wie bei ihm ist auch bei der Frau der Weg heraus aus der Alkoholsucht viele Jahre her. Sie war zusammengebrochen und ließ sich zunächst wegen einer Depression behandeln. Erst später habe sie erkannt, dass sie an Alkoholismus leide. Das zwanghafte Suchtverhalten habe sie lange kaschieren müssen, „das kostete viel Energie“.
Wurde sie auf ihren Konsum angesprochen, habe sie diesen lange verharmlost oder Bedenken über dessen Ausmaß abgestritten. Auch gegenüber der mittlerweile erwachsenen Kinder, die mitbekamen, wenn sie getrunken habe. „Heute kann ich offen und ehrlich mit ihnen über dieses Thema reden“, sagt sie.
Ein Bier, drei Bier, zehn Bier? Wann wird man zum Alkoholiker?
Oft beginne der schleichende Prozess zur Sucht nach Alkohol mit der Geschichte vom kleinen Bierchen am Abend, das man sich gönne. Kein ordentliches Bier, nur ein kleines Bierchen. Zur Beruhigung, als Erfrischung. Bei ihm seien daraus irgendwann zehn am Tag geworden.
Wann ist man denn Alkoholiker? Bei zehn Bieren? Bei drei? Gehört auch härterer Alkohol dazu? Kommt es auf die Menge oder die Regelmäßigkeit an? „Man darf sich nicht vergleichen“, betont er. Menge und Häufigkeit sind – so erklären auch Mediziner und Therapeuten – weniger maßgeblich für die Diagnose. Es gibt ebenso Pegeltrinker wie sogenannte Quartalssäufer.
Viel mehr füllt Alkohol eine Lücke im Leben, stifte einen trügerischen Sinn. „Zuletzt muss man selber wissen, ob man Alkoholiker ist oder nicht“, fasst der Mann zusammen.
„Hart zu uns selbst und mild zu den Anderen“
Diese Lücke, die die Überwindung einer akuten Alkoholsucht wieder entstehen lässt, muss mühevoll gefüllt werden. „Dank AA konnte jeder von uns beiden – und nicht nur wir – seinen Weg zu einem sinnvollen und erfüllten Leben finden“, sagt er und spricht von „ganzen Dankbarkeitslisten“ gegenüber der Gruppe.
Darauf stehen unter anderem: Rückkehr zu einem stabilen Wertesystem, Erfüllung im Beruf, Freude mit der Familie und Freunden, Spaß an Hobbys. Der Preis dafür sei hoch, aber wert zu bezahlen. Er münde darin, „weg von permanenter Ichbezogenheit, hin zur Demut und mehr Interesse an der Welt und Mitmenschen“ zu kommen. „Wir haben gelernt, hart zu uns selbst und mild zu den Anderen zu sein“, fasst er zusammen.
Eine nicht sichtbare Krankheit, die häufig genug tödlich endet
Die Sucht unvoreingenommen als Erkrankung zu akzeptieren, musste erst gelernt werden. „Am Anfang meiner Alkoholiker-Karriere habe ich mich natürlich geschämt“, sagt sie. Durch die Arbeit in der Selbsthilfegruppe habe sie erkannt, dass Alkoholismus eine Krankheit sei. Eine nicht sichtbare, die jedoch häufig genug tödlich endet. „Wir können nichts dafür“, sagt sie, „die einen bekommen eine Krankheit, die anderen nicht.“
Dennoch: Trocken oder nicht, eine Alkoholsucht bewertet unsere Gesellschaft anders als ein gebrochenes Bein, ein Krebsleiden oder chronische Rückenschmerzen.
Zumal Alkohol in unserer Kultur zum guten Ton gehört
Brautpaare werden mit Sekt empfangen; auf das schwere Essen folgt der Verdauungsschnaps; Erfolge im Beruf oder im Sport werden begossen; Prösterchen hier, zum Wohl dort. Wie anstrengend muss es sein, in dieser Gesellschaft Nein zu sagen? Nicht so sehr, meint sie, wenn man die richtige Haltung entwickle.
Auch hier sei der Erfahrungsaustausch mit anderen AA-Mitgliedern unerlässlich gewesen. „Im Alltag sage ich bei der Frage, warum ich denn keinen Alkohol trinke, nicht ‚Ich darf nicht‘, sondern ‚Ich möchte nicht‘“. Sie habe lernen müssen, auf sich zu achten und gehe eben nach Hause, wenn bei Festen oder Feiern um sie herum nur Betrunkene seien – ohne zu verurteilen. „Grundsätzlich habe ich erkannt, dass es Menschen gibt, die mit Alkohol umgehen können, ich aber nicht.“
„Es gibt für Alkoholiker kein kontrolliertes Trinken“
Auch für ihn wäre es heute nicht möglich, zum zitierten „kleinen Bierchen“ oder noch weniger zurückzukehren. „Bei einem echten Alkoholiker gibt es kein kontrolliertes Trinken“, fasst er zusammen. Daher achte er darauf, dass „mein Essen – und meine Getränke natürlich auch – ohne Alkohol sind“. Verrückt machen wolle er sich deshalb aber nicht und studiere nicht jede Inhaltsangabe oder Packungsbeilage bis ins allerletzte Detail auf Bruchteile von Alkohol.
Auch das ist Teil des Weges zur Trockenheit: mehr Gelassenheit im Leben, etwas weniger zwanghaftes Kontrollbedürfnis.
Folgen des Alkoholkonsums: Mehr als 200 Deutsche sterben täglich
Laut der Deutscher Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) sterben täglich mehr als 200 Deutsche an den direkten Folgen von Alkoholkonsum allein oder der Verbindung mit Tabakkonsum. Unfallzahlen sind in dieser Statistik nicht erfasst.
Behandlungen in Krankenhäusern im Landkreis: 1219 Frauen und Männer sind im Landkreis Konstanz im jüngsten Erfassungszeitraum 2017 alkoholbedingt im Krankenhaus behandelt worden. Dies geht aus der Krankenhausstatistik des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg hervor. Hierunter fällt eine Vielzahl von Diagnosen, von der durch Alkohol ausgelösten Lebererkrankung über eine akute Alkoholvergiftung bis zur Schädigung des un- oder neugeborenen Kindes durch den Alkoholkonsum der Mutter. Bezogen auf die Gesamteinwohnerzahl ist der aktuelle Wert der niedrigste seit 2013, vor fünf Jahren meldeten die Krankenhäuser noch 1339 Fälle. Umgerechnet war damals ein Prozent der Frauen und Männer, die im Landkreis wohnen, wegen einer alkoholbedingten Erkrankung im Krankenhaus (heute liegt der Wert bei 0,87). Die Statistik zeigt ferner, dass Männer mehr als zwei Drittel der Behandelten ausmachen und Menschen zwischen 40 und 65 Jahren besonders stark betroffen sind.
Die Selbsthilfegruppe Anonyme Alkoholiker (AA) ist in den 1930er-Jahren in den USA entstanden. Heute gibt es AA in lokalen Gruppen über die gesamte Welt verteilt, die Mitglieder treffen sich regelmäßig, oft im wöchentlichen Rhythmus. In Deutschland gibt es laut eigener Vereinsangaben 2000 bis 2500 solcher sogenannter Meetings. Ein wichtiger Teil der Arbeit in der Gruppe nimmt das 12-Schritte-Programm ein, mit dessen Hilfe der Weg aus der Sucht bestritten werden soll. Von einem Teil der klassischen Schulmedizin wird AA kritisiert, weil es zu viele spirituelle bis religiös-angelehnte Komponenten enthalte. Gleichzeitig hat die AA-Idee in viele andere Bereiche der Selbsthilfe Einzug gehalten. Heute verfolgen die Grundzüge unter anderem auch anonyme Raucher, Glücksspielsüchtige oder Essgestörte.