Depressionen, Psychosen, Burn-out, Borderline, Angststörungen. Sie schlagen zu, wenn wir nicht damit rechnen. Plötzlich haben sie uns im Griff. Ob wir wollen oder nicht. Treffen können sie fast jeden.

„Rund zehn Prozent einer Organisation sind davon betroffen“, erzählt Daniel Nischk, Psychologe am Zentrum für Psychiatrie Reichenau – in ganz normalen Unternehmen kann also jeder zehnte Kollege psychisch krank sein. Es genügt ein Chef, der seine Ideen mit Druck und Ängsten durchzusetzen versucht. Die mögliche Folge: Arbeitsunfähigkeit, langwierige Behandlungen.

 

Im schlimmsten Fall droht die Frührente.

Nachtruhe? Existiert schon lange nicht mehr

Zum Beispiel Stella. Die Frau mittleren Alters aus dem Landkreis Konstanz leidet unter Borderline. Patienten mit dieser Diagnose sind die meiste Zeit des Tages mit sorgenvollen, selbstabwertenden, kritischen, negativen Gedanken und möglicherweise eintreffenden Katastrophen beschäftigt. Sie verlieren sich darin. Die Spannung steigt an, was zu Selbstverletzungen führen kann.

Wenn dann Stress und Angst im Berufsleben dazukommen, tickt die Zeitbombe. „Es kann schnell von einer Stimmung in die andere wechseln“, sagt Stella. Der tägliche Gang zur Arbeit wurde für sie zur Tortur mit Bauchschmerzen und schlimmsten Befürchtungen, was der Tag wohl bringen würde; Nachtruhe existierte schon lange nicht mehr. Ihr Chef, den sie als cholerisch und aggressiv bezeichnet, machte ihr das Berufsleben zur Hölle.

Freiwillig in die Psychiatrie

„Irgendwann ging es nicht mehr“, erinnert sie sich an das tiefe Loch, in das sie fiel. Jobcenter und Arbeitsamt reagierten angesichts der dramatischen Lage mit Verständnis. Stella durfte kündigen und ihren Arbeitsplatz verlassen, ohne mit finanziellen Nachteilen rechnen zu müssen.

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„Ich habe mich für ein paar Monate in die Tagesklinik der ZFP Reichenau einweisen lassen“, berichtet sie. Hier wurde sie aufgefangen und wieder aufgerichtet. Und hier hörte sie von einem Modellprojekt, das bundesweit für Aufsehen sorgt – und langfristig viel Geld einsparen könnte: Supported Employment, auf deutsch: Unterstützte Anstellung für behinderte und andere schwer vermittelbare Personen, um bezahlte Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten – und diese auch zu behalten.

Susanne Hauk, Job-Coach im ZFP. Sie freut sich über die Fortschritte der Patienten.
Susanne Hauk, Job-Coach im ZFP. Sie freut sich über die Fortschritte der Patienten. | Bild: Schuler, Andreas

Das Modellprojekt, das vom Haus selbst finanziert und nach drei Jahren der Politik präsentiert wird, dient zur Früherkennung und Frühbehandlung psychisch erkrankter Menschen. Die Patienten sollen mit enger Betreuung auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen.

Bisher ist das so strukturiert: Nach Diagnose und Behandlung der Krankheit beginnen Reha-Maßnahmen in Werkstätten – bereits das kann sich über Jahre hinweg strecken. Anschließend folgt die stufenweise Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

Arbeit ist die beste Medizin – sagt der Mediziner

"Es hat sich längst bestätigt, dass der lange und zähe Weg zurück ins normale Leben sehr demotivierend und frustrierend ist für die betroffenen Personen", erklärt Daniel Nischk. "Der direkte Kontakt mit dem ersten Arbeitsmarkt hilft den Patienten bei der Rehabilitation. Arbeit ist die beste Rehabilitation und die beste Medizin – wenn der Arbeitsplatz der richtige und der passgenaue ist."

 

Als erster Arbeitsmarkt wird der reguläre Arbeitsmarkt bezeichnet. Hier bestehen Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse ohne Zuschüsse oder sonstige Maßnahmen.

Die Job Coaches, die im Rahmen des Modellprojektes für drei Jahre beim ZFP angestellt sind, gehen gemeinsam mit dem Patienten auf die Suche nach einem passenden Arbeitsplatz. Dabei wird dem Arbeitgeber gegenüber mit offenen Karte gespielt – die neuen Kollegen der Betroffenen wissen von der Erkrankung nichts. Deshalb gibt es in diesem Text auch kein Foto von Stella, und in Wirklichkeit heißt sie auch anders.

Job Coach Sandra Flügel und Psychologe Daniel Nischk. Sie helfen Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, auf dem Weg zurück in ...
Job Coach Sandra Flügel und Psychologe Daniel Nischk. Sie helfen Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, auf dem Weg zurück in die Arbeitswelt. | Bild: Schuler, Andreas

Job Coach Sandra Flügel berichtet aus ihrer Erfahrung: "Das Selbstwertgefühl wird erhöht bei einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt, die Integration in das soziale Umfeld verbessert. Damit verbunden ist eine höhere Lebensqualität, hohe Motivation bei der Therapie und Stabilisierung auch in kritischen Situationen."

"Ich habe gelernt, mit meinen Gefühlen klarzukommen"

Susanne Hauk betreut auch Stella auf ihrem Weg, und das seit dreizehn Monaten. "Sie wirkt glücklicher und zufriedener", hat Susanne Hauk beobachtet.

Stella pflichtet dem bei: "Heute kann ich ganz anders mit Konfliktsituationen umgehen." Wenn sie Probleme hat, kann sie jederzeit mit der Hilfe von Susanne Hauk rechnen. Stück für Stück emanzipiert sie sich. Bei ihrer Diagnose Borderline muss sie nach wie vor mit plötzlichen, extremen Stimmungsschwankungen rechnen. Mit Hilfe des ZFP hat sie für solche Situationen das richtige Verhaltung einstudiert. "Ich habe gelernt, mit meinen Gefühlen klarzukommen", sagt sie. "Ich habe dabei Methoden erlernt, auf die ich dann bewusst zurückgreifen kann, um Dinge zu realisieren."

Die Voraussetzung für die Teilnahme am Supported Employment ist die Motivation des Patienten. Der Job Coach begleitet den Klienten ohne zeitliche Befristung und führt Gespräche mit ihm und dem Arbeitgeber, insbesondere beim Arbeitsbeginn und bei Problemen. Irgendwann, wenn alles gut läuft, kann der Job Coach sich dann wieder zurückziehen.