Die Schlacht um Wahrheiten. Sie ist auf deutscher Seite vorbei. Keine Anklage, kein Gerichtsverfahren, nur geringe Schuld oder Verjährung. Vier Jahre lang ist das Konstanzer Herzzentrum unter Beschuss gestanden, hat die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist der große Skandal ausgeblieben, den ehemalige Ärzte der Fachklinik witterten. Die Schlacht um Wahrheiten, sie hat gezeigt, wie schnell auch die große Politik Vorurteile schürt, welche zwielichtige Rolle Medien spielen können, wie Angegriffene zurückschlagen – und sie noch lange an ihrem angekratzten Image polieren werden.
Es ist ein Stoff, der das Zeug zum Wirtschafskrimi hat. Auf die Bühne tritt ein Konstanzer Rechtsanwalt, der sich sich als Whistleblower-Anwalt ausgibt. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er vertritt eine Gruppe von Ärzten des Herzzentrums Konstanz und der Schweizer Schwesterklinik, das Herz-Neuro-Zentrum in Kreuzlingen. Auch die Mediziner wollen anonym bleiben. Sie stehen zu diesem Zeitpunkt bei den Kliniken noch unter Vertrag. Aber was dort passiere, sagen sie, gehe nicht mit rechten Dingen zu. Es müsse gehandelt werden. Die Öffentlichkeit müsse davon erfahren, der Geschäftsführung der Fachkliniken müsse das Handwerk gelegt werden.
Und so wenden sich die Ärzte an die Medien. Es ist ein heißer Frühsommertag im Jahr 2013, in der Wohnung eines Oberarztes. Dieser präsentiert Indizien. Indizien, die belegen sollen, was im Kreuzlinger Herz-Neuro-Zentrum und im Konstanzer Herzzentrum kriminell falsch läuft. Während er übereifrig ein Dokument nach dem anderen präsentiert, hält sich ein Chefarzt eher zurück und stellt seine Sicht der Dinge mit gewählten Worten dar. Er wird später den Diebstahl von Daten aus der Klinik dem Oberarzt zuschieben. Und er wird sich später als einer der Whistleblower zu erkennen geben; indem er gegen seinen einstigen Arbeitgeber wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts klagt. Ausgerechnet als dieser Privatdetektive angeheuert hatte, um den Feind in den eigenen Reihen ausfindig zu machen. Der behauptet, ein Chefarzt arbeite ohne Zulassung für Deutschland; es habe ein illegaler Leichentransport stattgefunden; es seien nicht genehmigte Herzklappen implantiert worden; das Narkotikum Propofol sei inkorrekt angewendet worden, eine Röntgenanlage entspreche technisch nicht den Bestimmungen; und der größte Brocken: Die Klinikleitung habe Sozialabgaben in Millionenhöhe hinterzogen. Das sind einige Vorwürfe eines ganzen Pakets.
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Whistleblower, das sind in den Augen von Unternehmen Verräter. In den Augen anderer jene, für die das Allgemeinwohl über der Loyalität zum Arbeitgeber steht. Berühmtestes Beispiel: Edward Snowden. Indem er Interna des amerikanischen CIA durchstieß, erhielt die Öffentlichkeit einen Einblick in die Spionagepraktiken von Geheimdiensten. Ein Skandal. Der blieb bei den Whistleblowern vom Bodensee aus. Zwar ermittelt die Thurgauer Staatsanwaltschaft noch gegen die Geschäftsführung des Herz-Neuro-Zentrums in Kreuzlingen wegen des Verdachts auf Preisabsprachen. Eine Briefkastenfirma in Zug soll medizinische Produkte günstig eingekauft und teuer an die Herzklinik weiterverkauft haben, um den hohen Preis bei den Kassen abzurechnen. Aber: Die Krankenversicherer haben bereits gerechnet und keinen Grund zu Beanstandung gesehen. Pikant hierbei ist, dass die Führung der Firma Pro Ventis aus Zug nahezu dieselbe ist wie bei den Herzzentren. Daher bleibt es spannend, ob es die Staatsanwaltschaft anders als die Krankenkassen sieht. Bis wann die Thurgauer Anklagebehörde hier zu einer abschließenden Einschätzung gelangen wird, ist noch unklar.
Die deutsche Staatsanwaltschaft hingegen hat ihre Ermittlungen gegen das Herzzentrum abgeschlossen. Federführend bei den Ermittlungen war Stefanie Rumpf. Eine Herkulesaufgabe für die Staatsanwältin. Viele der Vorwürfe hatte sie verhältnismäßig rasch abgehakt. Es lag keine oder geringe Schuld vor, oder die Angelegenheit war verjährt. Verhältnismäßig deshalb, weil sich Rumpfs Recherche wegen angeblich hinterzogener Sozialabgaben, den eben größten Brocken, über mehrere Jahre hinweg zogen. Jüngst hat sie diesen Komplex wegen, wieder einmal, geringer Schuld eingestellt. Es habe zwischen Januar 2012 und Oktober 2013 19 zu beanstandene Fälle gegeben, sagte Stefanie Rumpf gegenüber dem SÜDKURIER. Etwa 380 000 Franken habe die Klinik an Schweizer Versicherungsträger bezahlt – anstatt rund 160 000 Euro an deutsche Anbieter. Auf direktem Weg sprechen die Beteiligten nun über einen Ausgleich. Die Klinikgeschäftsführung sagt, sie habe sich in diesen Fällen an Festlegungen und Vorgaben von Schweizer Behörden gehalten. Und: Überprüfungen durch diese im Jahr 2015 hätten zu keinen Beanstandungen geführt.
Vom angeblichen Millionenbetrug also keine Spur. Damit erklärt sich auch, weshalb auf Gehaltszetteln, den die Whistleblower-Mediziner als Indizien anführten, wohl keine Abgaben an deutsche Sozialversicherer aufgeführt waren. Womit sich zeigt: Indizien sind noch lange keine Beweise. Die Ärzte präsentierten noch mehr: Etliche interne Unterlagen ihres Unternehmens, Patientendaten. Sie sprachen gezielt Medien an, darunter auch den SÜDKURIER, der in den vergangen Jahren ausführlich berichtete. Sie wiederum wurden aber auch gezielt angesprochen: von TV-Rechercheuren, die das Thema härter anpacken wollten als alle anderen. Ungeprüft, wen er zur Tür hinein ließ, hat der Oberarzt erneut alle Vorwürfe gegen seinen Arbeitgeber vorgebracht. Damit erreichte der Wirtschaftskrimi einen nächsten Höhepunkt. Pressekonferenz am 23. Januar 2014. Eingeladen hatte die Geschäftsführung von Herz-Neuro-Zentrum Kreuzlingen und Herzzentrum Konstanz, Verwaltungspräsident Dierk Maass und Geschäftsführer Martin Costa. Zahlreiche Medien warteten auf den Beginn. Es folgte ein Paukenschlag. Hinter den TV-Rechercheuren steckten angeheuerte Privatdetektive. Die Whistleblower waren enttarnt. Lange Männerfreundschaften sind zu Bruch gegangen. Weil, so die Geschäftsführung, die zwei aufgedeckten Whistleblower den Herzkliniken gezielt bis zur Zerschlagung schaden wollten, um eine eigene Herzklinik aufzubauen. Sie hätten „billigend in Kauf genommen, dass 360 Mitarbeiter ihre Jobs verlieren“, sagte ein sichtlich erschütterter Dierk Maass. Aus den Kliniken gestohlene Unterlagen seien nicht nur an Medien, sondern über den Konstanzer Whistleblower-Anwalt auch an Ermittlungsbehörden weitergegeben worden, was zu Ermittlungen geführt habe.
Es sei Strafanzeige gegen die zwei Ärzte gestellt worden. Sie hätten den Datenschutz verletzt, Betriebsinterna verraten. Es könnte eng werden für die Mediziner. Unter Umständen steht, über strafrechtliche Konsequenzehn hinaus, sogar ihre Approbation auf dem Spiel.
Mit welchen Mitteln in dieser Schlammschlacht gearbeitet wurde, zeigt folgender Aspekt: Während der Pressekonferenz im Jahr 2014 kam eine angebliche Anzeige der Schweizer Krankenkasse Swica gegen das Kreuzlinger Herz-Neuro-Zentrum zur Sprache. Das Papier, in dem es um eine Preistreiberei über Pro Ventis in Zug ging, war auch dem SÜDKURIER zugespielt worden. Recherchen ergaben Sonderbares: Weder die Krankenkasse noch die Staatsanwaltschaft in Zug, wo die Anzeige eingereicht worden sein sollte, wussten davon. Der Verfasser, ein Rechtsanwalt aus Wil, wollte auf Anfrage keine Stellung dazu beziehen. Der Verdacht liegt nahe, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Immer wieder erreichten weitere anonym vorgebrache Vorwürfe die Redaktion.
Ein falsches Spiel, das wiederum unterstellt der ehemalige Chefarzt der Klinikleitung. Er betreibt längst eine eigene Kardiologiepraxis in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem ehemaligen Arbeitgeber. 10 000 Franken Schadenersatz forderte er vor dem Bezirksgericht Kreuzlingen, weil er seine Persönlichkeitsrechte verletzt sieht. Die Klinik habe ihn ausspionieren lassen, die Ergebnisse öffentlich gemacht. Überhaupt seien die Detektive, die das Vertrauen der Mediziner schamlos ausgenutzt hätten, als „investigative Journalisten aufgetreten“, sagte sein Rechtsbeistand Markus Neff vor dem Bezirksgericht Kreuzlingen.
Die Klinik widersprach stets. Was ist wahr? Eine rechtliche Grauzone: Informanten genießen bei Journalisten, wenn sie als solche auftreten, besonderen Schutz. Damit Missstände an die Öffentlichkeit gelangen, ohne dass der „Whistleblower“ Konsequenz fürchten muss. Journalist ist kein geschützter Beruf, es darf sich jeder so nennen, wenn er publiziert. Wer sich allerdings als Polizist oder Arzt ausgibt, begeht eine Straftat. Das Verfahren vor dem Schweizer Gericht ist noch nicht beendet.
Geringe Schuld bedeutet nicht frei von Schuld. Die Geschäftsführung der Herzkliniken hat genau betrachtet nicht alles richtig gemacht, hat gegen Recht verstoßen. Patienten sind zu keinem Zeitpunkt zu Schaden gekommen, sind Ermittler bislang überzeugt. In Teilbereichen hatte Geschäftsführer Martin Costa schon früh eine Ahnung, dass etwas nicht ganz richtig gelaufen sein könnte. Von Medien angesprochen wiederholte er, es könne sein, dass Sozialabgaben falsch bezahlt worden sind. Woher dieses Gefühl? „Es war uns klar, dass der Vorwurf des Betrugs nicht zutreffen konnte. Daher haben wir ihn auch immer sehr entschieden zurückgewiesen. Die Sozialabgaben wurden jederzeit bezahlt“, heißt es über den Pressesprecher. Aufgrund des grenzüberschreitend tätigen Unternehmens sei dieses Thema komplex gewesen, zum Beispiel, wenn Mitarbeiter über die Landesgrenze umgezogen seien und das der Klinik nicht mitgeteilt hätten. Komplexität, davon spricht auch Staatsanwältin Stefanie Rumpf. Staaten- und EU-Verordnungen, sich immer wieder ändernde „extrem schwierige Rechtslagen“ und die Berechnung für insgesamt 250 Arbeitsverhältnisse hätten die Ermittlungen in die Länge gezogen.
Problematisch war die Anstellungsstruktur. Das Personal hat einen Vertrag mit dem Schweizer Herz-Neuro-Zentrum, schiebt allerdings zu einem erheblichen Anteil Dienst im Konstanzer Herzzentrum. Die Frage lautete, wohin Sozialabgaben zu fließen hatten.
Im deutschen Rechtssystem gilt jemand so lange als unschuldig, bis seine Schuld nachgewiesen und er von einem ordentlichen Gericht verurteilt ist. Katrin Altpeter hat darauf wenig bis keine Rücksicht genommen. 2013 war das Sozialministerium noch unter der Führung der SPD-Ministerin. Altpeter war es, die ziemlich rasch die gesetzlichen Krankenkassen aufforderte, wegen der Vorwürfe (insbesondere Sozialabgaben, Herzklappen) den Versorgungsauftrag mit dem Konstanzer Herzzentrum auf den Prüfstand zu stellen. Die SPD stand dem privat betriebenen und gewinnorientierten Haus von Anfang an äußerst kritisch gegenüber. Altpeter befeuerte ihre Haltung und stützte ihre folgende Aussage auf Medienberichte und anonyme Quellen. „So wie sich das uns darstellt, sind das unhaltbare Zustände“, ließ sie über den SWR verlauten. Der Tonfall via Pressemitteilung war nicht besser. Die Krankenkassen schwenkten anfangs auf diese Linie ein. Sechs Landesverbände gingen auf Distanz zum Herzzentrum. Als ob sie und das Sozialministerium noch einmal über die leise Vorverurteilung nachgedacht hätten, klang das ein halbes Jahr später anders: Es gebe keinen Anlass, die Zusammenarbeit mit dem Herzzentrum aufzukündigen – vorbehaltlich der staatsanwaltlichen Ermittlungen. Das war im April 2014. Wie Katrin Altpeter das heute sieht? Das wird ihr Geheminis bleiben.
Ihre Zeit als Sozialministerin ist seit der Landtagswahl im Jahr 2016 vorbei, als die SPD aus der Regierungsverantwortung flog. Das nun unter grüner Führung stehende Ressort hält sich auf Anfrage mit einer Aussage vornehm und diplomatisch zurück. Es handele sich um ein Vertragskrankenhaus, jegliche Zusammenarbeit betreffe die Krankenkassen. Vorwürfe, wofür sich Landesbehörden interessierten (fehlende Approbation eines Chefarztes), hätten sich nicht bestätigt. Vom Verband der Ersatzkassen verlautet heute der nüchterne Satz: „Da sich aus den Ermittlungen des Staatsanwaltschaft kein Handlungsbedarf ergeben hat, gibt es auch keine Veranlassung, weitere Konsequenzen daraus zu ziehen.“ Die deutsche Rentenversicherung will keinen Kommentar abgeben und nennt unter anderem Sozialgeheimnis und Datenschutz als Gründe. Die Lokalpolitik – sie hat 2013 ein öffentliches Bekenntnis zum Erhalt des Herzzentrums abgegeben – klingt euphorischer. Für die FGL „war und ist die medizinische Expertise unbestritten“, erklärt Stadtrat Normen Küttner. Das Herzzentrum und seine Kreuzlinger Schwesterklinik seien ein Gewinn für die wohnortnahe Versorgung von kardialen Erkrankungen und Notfällen. Ähnlich äußert sich Roger Tscheulin. Seine CDU-Fraktion sei über das Ergebnis der Ermittlungen erfreut. Er spricht beim Herzzentrum von einer unverzichtbaren Einrichtung der Gesundheitsversorgung. Die SPD sieht das Thema aus Sicht der Mitarbeiter, die sich lange Sorgen über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze hätten machen müssen. „Für solche Ängste gibt es wohl keinen Anlass mehr“, schreibt Fraktionsvorsitzender Jürgen Ruff.
Die Freien Wähler sind „froh, dass jetzt ein Schlussstrich gesetzt wurde und die Konstanzer Bevölkerung weiterhin eine qualitativ hohe Versorgung bei Herzerkrankungen hat“, erklärt Ewald Weisschedel.
Was bleibt nach der Schlacht um Wahrheiten? Nachdem Anschuldigung um Anschuldigung auf die Herzkliniken einprasselte? Nachdem auch namhafte Medien die große Geschichte witterten und sich gerne von den Informanten füttern ließen? Der SÜDKURIER hat unter Berücksichtigung der journalistischen Sorgfaltspflicht oft exklusiv berichtet – und etwa auf eine Berichterstattung über Dokumente mit zweifelhafter Herkunft verzichtet wie der mysteriösen Anzeige der Krankenkasse Swica. Diesem Druck auf die Herzkliniken gegenüber standen öffentliche Solidaritätsbekundungen von Konstanzer Ärzten und Patienten. Die Klinikleitung selbst schlug eine neue Linie ein. Sie kümmerte sich um Transparenz bei Mitarbeitern, zeigte sich kooperativ bei Ermittlungen, engagierte einen Profi für Krisenkommunikation. Nach dem Motto „Es bleibt immer etwas hängen“ wird das Krankenhaus aber noch lange mit dem Zusammenkehren der Scherben beschäftigt sein, zumal das Verfahren wegen mutmaßlicher Preisabsprachen in der Schweiz noch läuft. Umso mehr freue es das Herzzentrum, dass es bei Klinikvergleichen und Umfragen vorderste Plätze belege, erklärt der Pressesprecher. Aber, und das darf nicht verschwiegen werden: „Ungeachtet dessen war der finanzielle Schaden der ungerechtfertigten Anschuldigungen gegen uns massiv und geht in die Millionen.“
Die Whistleblower sind still geworden. Schriftliche Anfragen bleiben unbeantwortet, wie sie heute die Sache sehen, ob sie eventuell falsch gehandelt, zu Unrecht und zu massiv verdächtigt haben, sie hätten besser recherchieren müssen. Der angekündigte telefonische Rückruf bleibt aus. Das Engagement war vor vier Jahren noch ein anderes. Mit einer Ausnahme. Ein Mediziner meldet sich. Bringt den nächsten Vorwurf. Es seien eben doch Millionenbeträge an Sozialabgaben, die die Geschäftsführung hinterzogen habe. Die Kliniken bestünden erheblich länger als der untersuchte Tatzeitraum. Zurück auf Anfang? Nein. Vor 2012 und nach 2013 gab es eindeutige Regelungen zu Sozialabgaben, woran sich die Klinikleitung wohl hielt. Sie nennen sich EU-Verordnung 883/2004 und A1-Bescheinigung. Unkompliziert nachzulesen im Internet. Sofern man will.