Thurgauer Kantonsräte scheinen mehr zu wissen als die Justiz. Zumindest erweckten sie während einer Sitzung des Großen Rats diesen Eindruck. Allen voran Peter Dransfeld, Grünenabgeordneter aus Ermatingen. Das Herz-Neuro-Zentrum Bodensee (HNZB) in Kreuzlingen, die Schwesterklinik des Konstanzer Herzzentrums mit gleicher Geschäftsführung, werde von der Thurgauer Regierung protegiert, „obwohl sie nach übereinstimmender Meinung ausgewiesener Fachleute medizinisch und geschäftlich im Graubereich arbeitet, obwohl sie ohne diese Protektion auf dem Markt kaum überlebensfähig wäre“.

Regierung kann Vorwürfe nicht verstehen

Ein starker Vorwurf, der bei der Thurgauer Regierung für heftiges Kopfschütteln sorgt und beim Herz-Neuro-Zentrum für Verärgerung. Noch ist nicht erwiesen, ob sich die Geschäftsführung des Millionenbetrugs schuldig gemacht hat.

Das Herz-Neuro-Zentrum Bodensee in Kreuzlingen. Es wird durch einen Neubau in Münsterlingen ersetzt.
Das Herz-Neuro-Zentrum Bodensee in Kreuzlingen. Es wird durch einen Neubau in Münsterlingen ersetzt. | Bild: Oliver Hanser

Das sind die Vorwürfe der Politiker

Eine Privatklinik, deren Chefs mehrjährige Haftstrafen wegen Betrugs drohten, werde den Grundsätzen des Thurgauer Gesundheitswesens – „effizient, wirtschaftlich und transparent“ – nicht gerecht, fügte Peter Dransfeld hinzu. Die Thurgauer Regierung verschließe seit Jahren Augen und Ohren vor warnenden Hinweisen über Missstände in der Herzklinik. Dransfeld erwähnte Zeitungsartikel, politische Vorstöße oder Akten, die den Behörden übergeben worden seien. „Desinteressiert und überheblich, teilweise zynisch und arrogant muten derweil alle Reaktionen des Regierungsrats auf kritische Einwände an“, kritisierte Dransfeld weiter.

Rüegg stellt Vertrauenswürdigkeit in Frage

Jost Rüegg (Grüne, Kreuzlingen) betonte, dass die Thurgauer Regierung Verträge aushandle, ohne die Vertrauenswürdigkeit der Partner infrage zu stellen. Derzeit errichtet das Herz-Neuro-Zentrum in Münsterlingen einen 50 Millionen Franken teuren Neubau auf einem Grundstück des Kantons. Hermann Lei (SVP, Frauenfeld) fragte, ob es richtig sei, dass Thurgauer Regierungsrat „mit diesen Leuten Cüpli trinkt“. Das Misstrauen gelte nicht gegenüber den Ärzten und ihrer Arbeit, sondern gegenüber der Chefetage der Klinik.

Das Konstanzer Herzzentrum von oben: Es steht zwischen Haus der Spitalstiftung und Atrium und sieht aus wie ein T.
Das Konstanzer Herzzentrum von oben: Es steht zwischen Haus der Spitalstiftung und Atrium und sieht aus wie ein T. | Bild: Lukas Ondreka

„Es wird ihnen wohl noch auf die Füße fallen.“

Josef Gemperle (CVP, Fischingen) erwartet von der Regierung nun eine vertiefte Abklärung und Analyse der Vorkommnisse in der Herzklinik sowie eine Strategie für die künftige Zusammenarbeit zwischen Kanton und Privatklinik. Ueli Fisch (GLP, Ottoberg) warnte vor einem Reputationsschaden für den Kanton. „Die Regierung schafft es einfach nicht, solche Fälle mit Fingerspitzengefühl anzugehen. Er wird ihnen wohl noch auf die Füße fallen.“ Die Politiker scheinen in den vergangenen Jahren einiges verpasst zu haben.

Worum es bei den Vorwürfen geht

Thurgaus Gesundheitsdirektor Jakob Stark schüttelte während dieser Ausführungen seinen Kopf. Alle drei Jahre müsse sich die Kantonsregierung Vorwürfe zur Herzklinik anhören, die nicht gerechtfertigt seien. Vorwürfe hatte es viele gegeben – vorgetragen von einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern, die anonym bleiben wollte, genauso wie ein Konstanzer Rechtsanwalt, der sich als „Whistleblower-Anwalt“ bezeichnete. Er sollte als Schnittstelle zwischen den Mitarbeitern sowie der Öffentlichkeit, insbesondere Medien, dienen.

Von Sozialabgaben und Narkosemitteln

Von einer illegal transportierten Leiche war die Rede, von falsch verabreichten Narkosemitteln, von Betrug an der Sozialversicherung durch unterschlagene Abgaben, von in Deutschland nicht zugelassenen Herz-Implantaten, von einem Chefarzt ohne Zulassung – und zuletzt von Millionenbetrug.

Hier geht es zum Herzzentrum, hier hatte die Staatsanwaltschaft in gleich mehreren Angelegenheiten ermittelt. Viel gefunden hat die ...
Hier geht es zum Herzzentrum, hier hatte die Staatsanwaltschaft in gleich mehreren Angelegenheiten ermittelt. Viel gefunden hat die Anklagebehörde aber nicht. | Bild: Zieger, Philipp

Wie es um die Ermittlungen steht:

Auf deutscher Seite hat die Staatsanwaltschaft alle Vorwürfe fallen gelassen mit der Begründung: keine oder nur geringe Schuld. Beim angeblichen Sozialversicherungsbetrug hatte sich herausgestellt, dass Abgaben zwar entrichtet worden waren, allerdings an die Versicherungsträger des falschen Staats. Angestellte in Kreuzlingen arbeiten zu einem gewissen Anteil auch im Konstanzer Haus. Es folgte eine Verrechnung. Bei den illegalen Implantaten, von denen die Mitarbeiter sprachen, war die Klinikführung laut Staatsanwaltschaft davon ausgegangen, dass die aus Prag bezogenen Medizinprodukte bereits zugelassen seien.

So läuft es auf Schweizer Seite

Auf Schweizer Seite haben die Ermittler ebenfalls die Akten zu einigen Vorwürfe geschlossen – in einer Angelegenheit aber noch nicht, und insbesondere darauf beziehen sich die Thurgauer Kantonsräte. Es geht um die Verflechtung des Herz-Neuro-Zentrums Kreuzlingen mit Pro Ventis aus dem Kanton Zug. Hinter dieser Firma stecken dieselben Verantwortlichen wie bei der Herzklinik, Martin Costa, Dierk Maass und Antoinette Airoldi.

Bestehender Vorwurf des Millionenbetrugs

Der Vorwurf lautet: Pro Ventis soll von Herstellern Medizinprodukte mit Rabatten bezogen und ohne Rabatte, gar erheblich teurer nach Kreuzlingen verkauft haben. Die Herzklinik soll die Kosten dann mit weiteren Zuschlägen bei Krankenkassen abgerechnet haben. Unterlagen, die dem SÜDKURIER vorliegen, erwecken diesen Eindruck. Dies wäre eine bewusste Preistreiberei.

Das Gericht hängt in der Wartschleife

Das Kreuzlinger Bezirksgericht hat zwischenzeitlich 42 Bundesordner voller Unterlagen gesammelt – überdurchschnittlich viel im Vergleich zu anderen Verfahren, sagt Präsidentin Ruth Faller Graf. Derzeit seien die Parteien, Staatsanwaltschaft und das Führungstrio des Herz-Neuro-Zentrums, aufgefordert, Beweise zu ergänzen. „Wir müssen zuerst einmal alles haben“, sagt Faller Graf, bevor ein Termin für die Hauptverhandlung angesetzt werden kann.

So reagiert die Klinikleitung:

Das Herz-Neuro-Zentrum sei zuversichtlich, dass die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft vor Gericht nicht standhalten werden, erklärt ein Pressesprecher des Unternehmens. Die Geschäftsleitung begrüße es, dass durch das Gericht eine unabhängige Klärung erfolgen wird. Und was sagt sie zu den Aussagen der Thurgauer Kantonsräte, will sie darauf reagieren? „Auf einzelne ruf- und geschäftsschädigende Vorwürfe und mögliche Motive von einzelnen Politikern wollen wir nicht eingehen“, antwortet der Presseprecher, und: „Warum nun einzelne Vertreter des Großen Rates des Kantons Thurgau die alten Vorwürfe aufwärmen, ist nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil: Bislang sei die Fachklinik von Vorwürfen entlastet worden, auch durch die Thurgauer Kantonsverwaltung.

So reagiert die Kantonsregierung

Sie betont erneut auf SÜDKURIER-Nachfrage: „Fakt ist, dass bisher keine Verfehlungen des HNZB, welcher Natur auch immer, vorliegen.“ Die Behauptung von Peter Dransfeld, die Klinik werde durch den Kanton protegiert, entbehre jeder Grundlage. „Die Aussagen von Herrn Dransfeld stellen eine Einzelmeinung dar und sind nicht nachvollziehbar“, erklärt Nathanel Huwiler aus dem Departement für Finanzen und Soziales.

Was passiert, wenn Vorwurf zutrifft?

Die Vertrauenswürdigkeit sei dann infrage gestellt, wenn die Betrugsvorwürfe zuträfen. Diese Klärung obliege aber dem Bezirksgericht. Überhaupt: Der Chef seines Departements, Jakob Stark, habe seit seinem Amtsantritt im Juni 2014 keinerlei Kontakte mit den Verantwortlichen der Klinik gehabt. So viel zu den angeblich tiefen Verflechtungen.

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Silvan Meile, Thurgauer Zeitung, entstanden