An der Grenze zwischen dem deutschen Konstanz und dem schweizerischen Kreuzlingen gewinnt der alte Schlachtruf von der Internationalen Solidarität eine ganz neue Bedeutung. Über 300 Gewerkschafter aus Deutschland und der Schweiz gestalten dort gemeinsam den 1. Mai. Denn in beiden Ländern zeigt sich das gleiche Bild: Es soll an den sozialen Sicherungssystemen und den Löhnen gespart werden. Gewerkschafter fordern: „Löhne, statt Grenzen schützen!“ und „Solidarität statt Hetze“.
„Gerechtigkeit kennt keine Grenzen“, sagt Bruna Campanello von der Geschäftsleitung der Schweizer Gewerkschaft Unia. Soziale Gerechtigkeit geschehe nicht einfach so. „Alles wurde erkämpft durch Menschen, die gesagt haben, es reicht!“ Der frühere Bundestagskandidat der Linken, Lars Hofmann, der als Gewerkschafter für den Einzelhandel spricht, wo er selbst arbeitet, hat wohl schon lange die Nase voll. „Es ist schlimmer geworden.“
Kritik an einem System, das kaputt mache
Man schlage sich ständig mit zu wenig Personal und kaputten Geräten herum. Der Zwang, mehr zu leisten als möglich ist, habe zugenommen. Das sei Gewinnmaximierung auf dem Rücken der Arbeitenden, genauso wie es der Kapitalismus wolle. Denn er stelle den Gewinn und nicht den Menschen in den Mittelpunkt. „Es ist das System, das uns kaputt macht.“

Hofmann sagt weiter: Es sei auch kein Zufall, dass Kaufland wegen Hygiene-Mängel in die Schlagzeilen geriet. „Das ist das Ergebnis des Sparens.“ Die Mitarbeitenden wünschten sich Wertschätzung, faire Löhne, verlässliche Arbeitszeiten. Dies würden sie bei der nächsten Tarifrunde fordern: „Wir sind organisiert. Wir sind wütend.“
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Ursula Hanser, Vorsitzende des Ortsvereins der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, stellt fest, die Grundlage für eine stabile Demokratie sei das gute Miteinander. Um dieses zu erreichen, müssten Reiche und Superreiche einen höheren Anteil beitragen. Am Achtstundentag dagegen dürfe nicht gerüttelt werden. Wichtig seien auch verlässliche Finanzzusagen, etwa für die gesetzliche Krankenversicherung und für die Pflege.
Normen Küttner, der fürs Deutsche Rote Kreuz spricht, hält es für absurd, wenn Arbeitenden Faulheit unterstellt werde. Das sei bei den Kollegen, die immer zur Verfügung stehen, sicher nicht der Fall.
„Demokratien sterben leise, wenn zu viele schweigen“
Der Zug der Demonstranten hält beim Denkmal des Hitler-Attentäters Georg Elser in der Schwedenschanze. Sein Anschlag scheiterte. Er wurde 30 Meter vor der rettenden Schweiz gefasst und vor 80 Jahren im Konzentrationslager Dachau durch Genickschuss hingerichtet. Markus Sonnenschein, der selbst beim Hauptzoll arbeitet, sagt, dieser „mutige Mann“ habe Hitler zu töten versucht, um Schlimmeres zu verhindern, also den Krieg mit Millionen Toten.

Sonnenschein mahnt, sich mit friedlichen Mitteln für die Demokratie einzusetzen, und sie nicht durch Gleichgültigkeit zu gefährden: „Es ist an uns, Haltung zu zeigen.“ Und: „Demokratien sterben leise, wenn zu viele schweigen.“ Er hofft, dass es nie eine Welt geben wird, in der Bürger feststellen: „Hätte ich doch nur was gesagt.“
1975 ging es um einen freien Seezugang
Einer, der im wahrsten Sinne des Wortes über Zäune ging, war der SPD-Stadtrat und Gewerkschaftssekretär Erwin Reisacher. Am 1. Mai 1975 forderte er zum Marsch für einen freien Seezugang in Konstanz auf. Dabei wurden Zäune der Privatanlieger überklettert. Das war der Samen für den später verwirklichten Seeuferweg.

An diese Ereignisse vor 50 Jahren erinnert eine symbolisch aufgebaute Barriere am Seeufer nahe des Stadtgartens. Dort hält der Demonstrationszug und Egenolf Löhr spricht. Er war beim legendären Spaziergang dabei und musste sich mit einem Strafverfahren deswegen herumschlagen. Er sagt, die Demonstranten hätten erst gar keine Zäune übersteigen wollen. Sie dachten, wegen des niedrigen Wasserstands des Bodensees wäre es möglich gewesen, am Strand zu spazieren, was sich als Irrtum erwiesen habe.
Es sei jetzt Zeit, an das Husarenstück von Reisacher vor 50 Jahren zu erinnern, sagt Löhr. Eine Gruppe bringt im Laufe des 1. Mai ein Schild an, das den Seeuferweg in Erwin-Reisacher-Weg umbenennt.