Herr Hennemann, erinnern Sie sich noch, was Sie damals eigentlich zum Jurastudium und zum Anwaltsberuf gebracht hat?

Ich war bei der Arbeitsagentur, beim Berufsinformationszentrum BIZ, und habe überlegt, was zu mir passt. Eigentlich wollte ich Arzt werden, Medizin studieren. Während meines Zivildienstes beim Roten Kreuz habe ich aber gemerkt, dass die medizinische Tätigkeit und insbesondere der Umgang mit Blut und die schwierigen Situationen, in denen man manchmal nicht helfen kann, nichts für mich sind. Es gab ein sehr einschneidendes Erlebnis, das mir endgültig gezeigt hat, dass das nicht mein Weg ist. So habe ich mich schnell dazu entschieden, Jura zu studieren und bin nach Konstanz gekommen.

Gab es in Ihrer Laufbahn ein oder auch mehrere Fälle – vielleicht auch in der jüngeren Vergangenheit – die Sie persönlich tief bewegt und auch geprägt haben?

Eigentlich bewegt mich jeder Fall in gewisser Weise – nicht immer geht es einfach um Schuld und Strafe, dahinter stehen immer Menschen: auf der einen Seite die Betroffenen und ihre Angehörigen, auf der anderen die Mandanten und auch deren Angehörige. Wird jemand zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, leidet ja nicht nur er, auch die Familie, die Kinder – sie sind für Jahre ohne ihn. Besonders einschneidend sind für mich Fälle, bei denen die äußeren Umstände außergewöhnlich sind. Zum Beispiel beim letzten Kokain-Prozess, als Polizeibeamte mit Maschinengewehren und Sturmhauben im Gerichtssaal standen und ein Hubschrauber über dem Gebäude kreiste.

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Wie schafft man es da, professionelle Distanz zu bewahren?

Diese Distanz muss man mit der Zeit lernen und sich erarbeiten. Am Anfang ist sie sicher nicht da, und dann merkt man, dass man anders nicht damit klarkommt. Das heißt aber nicht, dass ich abstumpfe. Es hilft, sich auszutauschen – ich spreche mit meinen Kolleg:innen in der Kanzlei, manchmal auch mit meiner Frau, allerdings nie über Namen oder Details. Man braucht einfach ein Umfeld außerhalb des Berufs, das einen auffängt.

Das heißt, Sie nehmen aber auch viel mit nach Hause?

Ja, klar. Also zumindest lasse ich nichts hier. (lacht)

Warum vertritt man eigentlich diesen oder jenen Klienten? Da gibt es durchaus manchmal Entscheidungen, wo Menschen in der Bevölkerung sagen: Wie kann man so jemanden vertreten? Was ist bei solchen Entscheidungen ausschlaggebend?

Wenn man sich für das Strafrecht entscheidet, geht es nicht darum, eine Tat oder einen Menschen zu verteidigen, sondern darum, eine Rolle im Rechtsstaat zu übernehmen und die Einhaltung des sachlichen und formellen Rechts sicherzustellen. Als Strafverteidiger sehe ich meine Aufgabe darin, den Rechtsstaat zu verteidigen, nicht die Schuld oder die Strafe in den Vordergrund zu stellen. So bleibt der Fall auch auf Distanz und ich kann sachlich arbeiten – es geht nie nur um den Einzelfall allein, sondern eher um das große Ganze.

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Was bedeutet für Sie dann Gerechtigkeit – und wo unterscheidet sie sich vom Gesetzestext beziehungsweise vom Rechtsbegriff und von der Rechtsstaatlichkeit?

Für mich steht die Rechtsstaatlichkeit immer an oberster Stelle, sie muss eingehalten werden. Wir haben Gesetze, an die wir uns halten müssen. Wenn die Gesetze geändert werden, dann ist es etwas anderes, dann kommt das aber demokratisch zustande. Im Moment bewegen wir uns in dem Rahmen, in dem ich menschlich mitgehen kann und auch dahinterstehen kann. Solange das gegeben ist, ist es einfach so, dass diese Rechtsordnung eingehalten werden muss. Und das ist die Prämisse, unter der man an einen Fall rangeht. Die Aufgabe ist, genau hinzuschauen, wie der beschuldigte Mensch behandelt wird: durch den Rechtsstaat, durch die Polizei, ob sämtliche Verfahren korrekt laufen – zum Beispiel bei einer Durchsuchung. Genau dieses Hinschauen, Prüfen und Aufzeigen ist aus meiner Sicht Strafverteidigung.

Entscheiden Sie aber schon auch einmal inhaltlich, also dieser oder jener Fall klingt interessant – losgelöst von oben stehender Thematik?

Man weiß das manchmal im Vorfeld gar nicht. Oft ruft jemand an, möchte eine Beratung, und dann sitzt man zusammen und spricht über den Fall. Ich habe noch nie ein Mandat abgelehnt; wirtschaftliche Überlegungen spielen dabei natürlich auch eine Rolle, man muss ja auch Geld verdienen. Wenn ich mich aber für das Strafrecht entscheide, muss ich auch schwierige Fälle wie sexuellen Missbrauch oder rechte Straftaten vertreten. Für mich gilt, dass jede und jeder in unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung Anspruch auf eine gute Verteidigung hat. Das verlangt das Gesetz, und das setze ich um – unabhängig von der Tat. Ich verteidige nicht die Tat, die begangen wurde, sondern ich verteidige den Rechtsstaat. Es geht immer um den Schutz des Rechtsstaates und darum, dass auch jemand, der etwas Schlimmes getan hat, korrekt behandelt wird und seine Rechte gewahrt bleiben. Würde das anders laufen, hätten wir keine Demokratie mehr. Dann würde willkürlich entschieden – und das möchte ich nicht.

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Wie passt Ihre Arbeit als Rechtsanwalt zu Ihrer politischen Ausrichtung als Mitglied der SPD und auch als Gemeinderat?

Das passt für mich perfekt zusammen. Die SPD ist die Rechtsstaatspartei in Deutschland, das zeigt sich schon bei ihrer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes 1933 im Reichstag. Diese Linie setzt sich bis heute fort, aktuell in der Regierung. Also das passt aus meiner Sicht wunderbar unter einen Hut.

Apropos, unter einen Hut: Die Tätigkeit als Anwalt ist ja auch ziemlich arbeitsintensiv. Wie vereinbaren Sie das eigentlich mit Ihrem Privatleben und dem Engagement im Gemeinderat?

Mein Anspruch ist es, alles weiterhin genauso sorgfältig zu erledigen wie vorher. Das gelingt mir mit viel Einsatz und Organisation. Meine Arbeit und auch das Engagement im Gemeinderat nimmt mir niemand ab, das muss ich beides unter einen Hut bringen – die Zeit dafür geht dann im privaten Bereich natürlich sehr oft verloren. Seit gut einem Jahr bin ich nun im Gemeinderat, und ich habe mir natürlich vorgestellt, wie aufwendig es ist, sich in neue Themen einzuarbeiten. Mein beruflicher Hintergrund hilft sicher dabei. Ich muss mich da nicht umstellen.

Aber Sie würden schon auch sagen, dass ihr Privatleben gelegentlich darunter leidet?

Ja, das ist so, aber es hängt davon ab, was man unter Leiden versteht. In manchen privaten Bereichen habe ich ganz klar weniger Freizeit als früher. Meine Frau ist ebenfalls berufstätig, ihr Job ist ihr genauso wichtig. Wir nutzen die Zeit, die wir gemeinsam haben, so gut wie möglich. Grundsätzlich hat sich aber nicht viel verändert.

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Wie schaffen Sie es trotzdem, einen Ausgleich zu schaffen oder Abstand zu gewinnen vom Kanzleialltag und von der Gemeinderatstätigkeit?

Das gelingt nur durch bewusstes Abgrenzen. Ich räume mir Zeitfenster am Tag oder in der Woche frei, um abschalten zu können. Es gibt keinen Knopf, den man einfach drückt – einiges nehme ich auch gedanklich nach Hause mit, aber das belastet mich nicht übermäßig. Ich fühle mich jetzt nicht eingeschränkt dadurch, dass ich gedanklich oft in der Politik, in der Gemeinderatstätigkeit oder im Beruf bin. Ich merke aber natürlich auch, dass ich Freiräume und auch freie Zeit brauche. Das gelingt durch gute Organisation.

Haben Sie eine Art Leitmotiv in politischen und beruflichen Fragen?

Mit einem festen Leitmotiv tue ich mich schwer. Wichtig ist mir aber vor allem, anständig und respektvoll mit anderen umzugehen, unabhängig von deren Meinung. Man muss inhaltlich hart diskutieren und sich danach trotzdem in die Augen schauen können. Für mich ist Streit nichts Negatives. Er ist kein Kampf, sondern ein Versuch, verschiedene Ansichten zusammenzubringen und eine Lösung, einen Kompromiss zu finden. Das geht, ohne persönlich zu werden. Fairer und respektvoller Umgang sind für mich in politischen und beruflichen Fragen sehr wichtig.

Vielen Dank für das Gespräch.