Frau Tissler-Buhr, Sie sind evangelische Diakonin und Seelsorgerin in den fünf Altstadt-Seniorenheimen – ist Ihre Arbeit in Zeiten von Corona-Pandemie und Besuchsverbot ruhiger geworden?
Nein. Meine Arbeit vollzieht sich zwar im Verborgenen – aber ich habe mehr zu tun denn je. Es gibt mehrere neue Angebote, zum Beispiel der Videogottesdienst. Normalerweise halte ich den vor Ort in den Kapellen, jetzt „drehen“ wir jede Woche. Das ist sehr aufwendig. Außerdem habe ich einen kleinen Posaunenchor organisiert, mit dem touren wir an die Heime und lassen Choräle erklingen. Und gerade komme ich vom Seelsorgefenster am Margarete-Blarer-Haus.
Wie kann man sich das vorstellen?
Das war die Idee des Blarer-Hauses, da es ja in normalen Zeiten auch Seelsorge gibt. Wegen Corona ist es nun ein Fenster – ich sitze dort mit einem Senior an einem Tisch, getrennt durch eine durchsichtige Plastikwand.
Wie groß ist die Angst der Senioren vor Covid-19?
Interessanterweise haben die Senioren kaum Angst vor dem Virus. Corona spielt insofern eine Rolle, als dass sie ihre Angehörigen lange Zeit nicht sehen konnten. Nur über Telefon oder Skype. Das hat ihnen zu schaffen gemacht. Den Menschen im Heim, aber auch den Angehörigen. Die vermissen sich natürlich gegenseitig und was ihnen jetzt besonders fehlt, ist Berührung, auch jetzt nach der Lockerung. Angehörige können und dürfen ihre alten Familienangehörigen nicht umarmen, noch nicht einmal die Hand halten. Darunter leiden die Menschen.
Wie gehen sie mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit um?
Es ist nicht leicht. Wir haben es hier so schön. Dass sie nicht einfach mit ihrer Tochter zum Rhein hinuntergehen können, ist schwer. Das Blarer-Haus zum Beispiel schiebt die Leute im Rollstuhl in den Garten, andere gehen selbst in den Garten, aber das ist etwas anderes, als einfach mal ein Eis an der Marktstätte essen zu können. Bei Demenzpatienten kommt zusätzlich die Komponente hinzu, dass sie nicht verstehen, warum ihre Kinder nicht kommen. Oder warum sie ihre Kinder oder Ehepartner nur hinter der Glasscheibe sehen können. Das ist unglaublich schwer für alle.
Wie kommt es, dass die Angst vor Covid-19 so gering ist?
Ich glaube, dass die Senioren schon ganz andere Zeiten durchleben mussten. Die meisten, die ich betreue, stammen aus der Generation Kriegskinder. ‚Wir sind durch ganz andere Zeiten‘, oder ‚wir mussten fliehen‘ – diese und ähnliche Sätze höre ich sehr oft. Bei manchen Senioren kommen allerdings wieder Gefühle aus dieser Zeit zum Vorschein, was auch nicht immer leicht ist.
Nun hat die Landesregierung das
Besuchsverbot gelockert.
Ja, neu ist, dass pro Bewohner grundsätzlich ein Besucher pro Tag in limitierter Zeit gestattet ist. Aber auch da ist keine Umarmung erlaubt. Viele Häuser setzen das aber noch nicht um, sie bleiben beim Besuchsfenster oder Garten, je nachdem, wie sie es gelöst haben.
Was ist denn, wenn jemand beispielsweise während dieser Corona-Zeit im Sterben liegt?
Im evangelischen Blarer-Haus ist es so, dass ich in akuten Fällen ins Haus darf, aber in voller Schutzmontur. Ich habe „draußen“ natürlich mit Menschen Kontakt, dennoch wurde ich im Heim nie als möglicher Infektionsherd wahrgenommen. Bei allen körperlichen Sorgen: Die Seele ist auch wichtig. Keiner stirbt an Einsamkeit, aber an gebrochenem Herzen schon – oder Lebensmüdigkeit.

Wie geht es Menschen ohne Kinder?
Nicht zwingend schlechter. Manche werden in normalen Zeiten von Freunden besucht oder eben Nichten und Neffen. Andere haben tatsächlich gar keine Angehörigen. Deshalb wollte ich vor Corona einen Besuchskreis starten. Zeitschenker kann man es auch nennen.
Wie darf man sich das vorstellen?
Dass man einem Menschen Zeit schenkt, gerade für die, die keine Angehörigen haben. Ob man eine halbe Stunde spazieren geht oder drei Stunden bleibt, ist jedem selbst überlassen. Nach Corona will ich damit weitermachen. Jetzt, wo viel über die Senioren gesprochen wird, will vielleicht der ein oder andere helfen. Denn viele sind nicht nur in diesen Tagen einsam. Zeit zu spenden für einen Senior ist nicht nur, dass ich etwas von mir gebe. Ich lerne von den alten Menschen auch ganz viel, etwa wie man mit den Krisen des Lebens umgeht. Wir können ganz viel von Senioren lernen, wenn wir wieder in Kontakt miteinander kommen.
Wie ist es für Sie, in der Lutherkirche
Videogottesdienste aufzunehmen,
ganz allein?
Hach, ja. Ich vermisse meine Senioren. Ich vermisse es, dass ich Ihnen die Hand reichen kann, nachzufragen, wie es ihnen geht. Ich vermisse, mit Ihnen zu schnacken. Und zu singen. Auf der anderen Seite bin ich dankbar, dass Sie dieses Angebot so gut annehmen. Den Gottesdienst nimmt mein Sohn Bjarne mit der Kamera auf. Er ist 16 und investiert viel Zeit, auch mit Schnitt und Nachbearbeitung. Mein Mann zieht alles auf Sticks und damit fahre ich mit dem Fahrrad an die fünf Altstadtheime. Das ist meine Stick-Tour. Es ist ein großer Aufwand, wird aber sehr gut angenommen. Also ist es das wert.
Wer gerne nach der Coronazeit am Besuchskreis von Claudia Tissler-Buhr teilnehmen und ehrenamtlich Zeit mit Senioren verbringen möchte, kann sich entweder per Email an Claudia.Tissler-Buhr@kbz.ekiba.de oder telefonisch melden: 07531/25217