Am südlichen Rand des Schwaketenwaldes sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Zugegeben, eine abgedroschene Redewendung. Und doch: „Als die Kinder klein waren, gab es hier tatsächlich noch Hasen“, erinnert sich Dorothea Räuber-Joos vom Sonnentauweg. Dann kam der Fuchs, dann die Hasen nicht mehr. Und jetzt hat sich auch der Fuchs schon lange nicht mehr blicken lassen.
Am Wald liegt das großzügige Grundstück aber immer noch, darauf eine Sauna, ein Teich und ein blau angestrichener Schuppen, in dem früher Hühner hausten, heute dagegen ihr Mann Alex Räuber seine Pinsel zum Trocknen aufhängt und die Fahrräder stehen.

Von der Straße aus fällt das Haus durch seinen modernen Anbau auf, „obwohl der schon 20 Jahre alt ist“. Ein Steg unter Glas verbindet das „alte Hexenhaus“, wie es die Besitzerin liebevoll nennt, mit dem Neubau, der zeitlos wirkt. „Dort auf dem Steg sitzt oft meine einjährige Enkelin und schaut den Regentropfen zu, wie sie die Scheibe herunterlaufen.“
1994 konnte man das Haus erwerben, 2001 folgte der Anbau, den ihr Mann mit einem befreundeten Architekten selbst plante und als Holzfertighaus ausführen ließ. Das Interesse Räubers für Architektur, die nicht einfach „Stein auf Stein setzt“, war immer groß.
Heute würde er vielleicht Städteplaner werden, für ihn ein faszinierendes Thema. Damals entschied er sich für den Beruf eines Familientherapeuten, nebenher schon immer Kunst produzierend, erst im Schuppen, danach im geräumigen Untergeschoss seines Anbaus.

Dorothea Räuber-Joos leitete zuletzt einen Kindergarten in Radolfzell. Früher habe sie nur halbtags gearbeitet, um am Nachmittag ihre Kinder betreuen zu können. „Mittags war hier immer eine große Kinderschar ums Haus.“ Vorne stand ein Tipi, hinten ein Baumhaus und über der ausgehobenen Baugrube, in der man eine alte Sickergrube entdeckte, spielten sie Ronja Räubertochter, wie sie über den „Höllenschlund“ springt. Doch obwohl auch heute noch viele Familien hier wohnen, sehe man kaum Kinder draußen spielen. „Die sind alle in den Ganztagesbereichen der Bildungseinrichtungen verschwunden!“
Die Verbindung im Haus zwischen Alt und Neu ist sehr gelungen, auch wenn dem Gestaltungsbeirat der Stadt vor 20 Jahren der Anbau viel zu modern war. Sie liebt das Alte, ist Brockenhaus-Gängerin und hat von dort so manches antiquarische Möbelstück mitgebracht. Er liebt das Neue, klare Linien, die sich auch in seiner Kunst wiederfinden. Beides darf hier nebeneinander existieren, im Leben des Räuber-Paares und im Bauwerk.

Da es für die Häuser nördlich des Sonnentauweges nie einen Bebauungsplan gab, hat hier fast jedes etwas „dranhängen“. Jede Form, jede Größe, jeder Baustoff ist vertreten: vom Betonklotz über Holzverschalungen zu Wintergarten-Glasfronten. Verwinkelt, geradlinig, sich nach hinten in die Höhe schraubend oder klare Kante zeigend. Architektur-Puristen könnten von Wildwuchs sprechen.
Ein Foto aus dem Jahre 1936, das noch die militärisch stramme Gleichförmigkeit der Nazi-Architektur zeigt, Häuser wie an einer Schnur aufgereiht, vermittelt da noch ein ganz anderes Bild. Zur Zeit der Errichtung waren die Gebäude alle einheitlich, sogar die Kirschbäume in den Gärten standen an der gleichen Stelle.
Vorne, vom Taborweg abbiegend, am Anfang des Sonnentauweges, fällt eines der Häuser dadurch auf, dass es nicht auffallen will. Es zeigt sich noch als Original, selbst die Weißdornhecke an der Straße ist unverändert. Darin wohnt Brunhilde Spiegelmann seit 1953. Damals zog sie mit ihrem Mann frischvermählt zur Schwiegermutter, bei der auch noch die zwei Brüder des Ehemannes wohnten. „Gab ja keinen Wohnraum für uns!“

Der Schuppen wurde als Schlafzimmer abgetrennt und ausgebaut. „Wir mussten uns mit der Kinderzahl nach der Größe des Hauses richten,“ stellt die 90-Jährige lapidar fest. Also brachte sie nur eines zur Welt. Irgendwann gingen die Brüder. „Und wir lebten als Kleinfamilie über drei Stockwerke verteilt.“ Im Keller die Küche, im Erdgeschoss das Schlafzimmer, unterm Dach das Kinderzimmer. 36 Jahre lang an der Oma vorbeischleichen, wenn man nach dem Nachtmahl ins Bett wollte, heute unvorstellbar.
Als die Schwiegermutter mit 95 ins Heim kam, war plötzlich Platz. Ihr Mann, Maurer von Beruf, versetzte die Wohnzimmerwand nach hinten, löste das Schlafzimmer auf, baute ein Bad ein, nahm in der Küche eine Wand heraus, verbreiterte den Flur, eine Gaube kam unters Dach. Mehr Umbau gab‘s nicht. Mehr Anbau schon gar nicht. „Warum auch? Mann kann nur auf einem Stuhl sitzen!“ Brunhilde Springmann hat Bescheidenheit gelernt. Als ihr Mann einen Schlaganfall erlitt, wuchtete sie ihn die schmale Stiege hinauf und auch wieder hinunter.
An früher erinnert sie sich gern. Als man sich noch kannte und alle im Siedlerbund organisiert waren. Ein jährlicher Ausflug mit dem Bus, Fastnachtsitzungen im St.-Suso-Gemeindesaal, wo Brunhilde in die Bütt stieg, in Sketchen mitspielte oder im Dienstmädchen-Ballett mittanzte. Und mit Pfarrer Schäffauer saß man beieinander bis in die frühen Morgenstunden und trank so manche Flasche Wein aus dessen Privatkeller.
Monatlich trafen sich die Frauen am Enzianweg an der Telefonzelle, die alle nur „Siedlerbahnhof“ nannten, und dann ging man zusammen aus. „Der Herr Graf, unser erster Vorsitzender, fuhr damals durch die Straße und fotografierte jeden Vorgarten.“ Weil es da so herrlich blühte. Dann konnte man Abzüge bestellen und bekam seine Fotos.

Das sei ein Zusammenhalt gewesen, seufzt sie. Stattdessen jetzt gegenüber eine studentische Burschenschaft in einem der Häuser. Und überhaupt: Wen kennt man denn heute noch im Sonnentauweg? Junge Familien sind hergezogen, beste Wohnlage am Stadtrand, aber selbst mit den Nachbarn komme man kaum noch ins Gespräch.
Nach der Hälfte macht der Sonnentauweg einen Schlenker, ab da muss man mit Fahrrad oder Auto Riesenslalom fahren. Links ein Parkplatz, rechts ein Parkplatz, immer schön im Wechsel. Man schlängelt sich durch. Die Grundstücke zum Wald hin werden wieder kleiner. Dasselbe Bild wie weiter vorne. Manche Häuser sind in noch in ihrer Grundform zu erkennen, andere komplett „überarbeitet“. Die strenge Siedlungsform hat sich über die Jahrzehnte aufgelöst. So wie der Zusammenhalt. Nur hinterm Haus beginnt immer noch der Wald.