Sie hat den besten Platz an der Seestraße 1. Und dort sitzt sie, tagein, tagaus, das ganze Jahr über im Sommerkostüm, bei Wind und Wetter und verliert gerade einen Schuh. Merkwürdigerweise schaut sie aber nicht auf den See, sondern Richtung Eisenbahnbrücke.

Die junggebliebene Dame mit Hut ist eine Statue und hat schon manchen Passanten dazu verleitet stehenzubleiben. Weil sie so echt aussieht, zwar herausgefallen aus der Zeit: Die Kleidung erinnert an die 1920er-Jahre, aber eben auch passend zu den mondänen Häuserfassaden.
Weitere Fakten zum Quartier
Die Seestraße mit den ersten Hausnummern von 1 bis 15 hat wahrlich die prächtigste Häuserzeile von Konstanz. Und die Neugierde ist groß, wie es wohl dahinter, in den Wohnungen, aussieht. Türen öffnen sich, manche bleiben verschlossen; man scheint hier vorsichtiger als anderswo zu sein. Aber wenn man eintreten darf, dann hat das Äußere nicht zu viel versprochen. Im Gegenteil.
„Ich kam mir am Anfang etwas mickrig vor“
Renate Schwarz-Massat und ihr Mann Werner Schwarz wohnen hier erst seit zwei Monaten. Er beschreibt den Charakter der Wohnung mit „schlossähnlich“. Fast vier Meter hohe Decken, teilweise kunstvoll bemalt, Parkettböden auf der Südseite, wo der See durch großzügige Fenster an diesem Tag sein Blau hereinwirft, ein filigranes Steinmosaik in der Küche, die zum Norden hin liegt. „Ich kam mir am Anfang etwas mickrig vor“, führt Werner Schwarz aus.

Die Erdgeschosswohnung hat noch eine großzügige Terrasse, davor direkt die Seepromenade, von der üppigen Quadratmeterzahl der Wohnfläche ganz zu schweigen. Als „Trostpflaster für das schlechte Gewissen, so viel Platz zu zweit zu haben“, so die pensionierte Lehrerin, habe man ein Zimmer an eine Familie nebenan vermietet, die es als Büro nutzt. Man sei umgezogen, weil die Wohnung über den Hinterhof mit einem Aufzug zu erreichen ist, altersgerecht eben. Die Besitzer der Wohnung sind alte Bekannte.
„Der beste Platz nördlich der Alpen!“
Hauswechsel: Die Seestraße 3a wird das Braune Haus genannt, weil sie während der Nazizeit die NSDAP-Zentrale war. Andreas Grauer wohnt hier mit seiner Lebenspartnerin Carmen Koberzin und zeigt im Keller die Arrestzellen mit Guckloch. Bedrückender Einblick.

Dagegen der Ausblick aus ihrer Wohnung im zweiten Stock vom Feinsten. Grauer, seit 1989 Rechtsanwalt, hat als Segler und Pilot die ganze Welt bereist und wahrlich viel gesehen. Aber das hier sei „der beste Platz nördlich der Alpen!“
Koberzin arbeitete als Fernsehjournalistin im Stuttgarter Raum und besitzt heute ein Atelier in der Buchnerstraße, wo sie mit einer hundert Jahre alten Strickmaschine feine Stoffe fertigt. Beide wohnen hier wegen des Sees vor der Tür. Er mache sich morgens einen Kaffee und trete ans Fenster, sie würde sogar nachts, wenn sie sich etwas zu trinken holt, mit dem Glas dastehen und hinausschauen.

Morgens zähle sie alle Tiere des Wassers. Fehle ein Küken, so falle ihr das sofort auf. Die Vögel, so ihre Beobachtung, hätten sich in der Corona-Zeit den See zurückerobert. „Im ersten Lockdown habe ich 180 Schwäne gezählt, die sich hier wieder dauerhaft niedergelassen haben.“ Der Schiffsverkehr, so Grauer, sei ja komplett zum Erliegen gekommen. „Und wenn ein Schwan mal krank an Land saß, hat sich immer jemand von den Anwohnern gekümmert und die Tierrettung gerufen.“
Im Sommer dagegen, zur Touristenzeit, sei vor ihrem Fenster „großes Kino“ geboten: Sich verheddernde Boote, von der Wasserpolizei gejagte Schnellfahrer und Segelboote, deren Skipper, von der starken Strömung rheinabwärts getrieben, zu spät bemerken würden, dass da eine Brücke komme. Ja, und im Sommer, da sei es besonders schön, sich morgens in der Früh mit den Anwohnern der Seestraße zum Schwimmen zu treffen.
„Ohne Dünkel“, die nackten Schenkel des Professors neben all den anderen. Und dann sitze man auf der Treppe am Wasser mit dem ersten Kaffee, plaudere und schaue der Sonne entgegen, die den See rosa-orange färbt. Das sei „erhebend“. So erhebend wie der „unentwegt fließende See“, der täglich mit einem neuen Farbenspiel grüßt.
„Damals betrug die Miete für den Quadratmeter 1,45 Mark“
Noch mal ein anderer Eingang, aber auch oben. Brigitte Homburger öffnet die Tür. Dass sie 91 Jahre alt sein soll – das muss ein Gerücht sein! Wieselflink kommt sie den Gang herunter, ihr Geist hellwach. Wie macht sie das? Zweimal die Woche einen Vormittag hilft sie noch in der Buchhandlung aus, täglich mehrfach die 68 Stufen hinunter und wieder hinauf, einen Aufzug gibt es nicht.

Jede Woche lese sie noch mindestens vier Bücher „quer“, eine Angewohnheit, die sie sich aus aktiven Buchhändlerinnenzeiten einfach nicht abgewöhnen könne, „denn ich möchte ja immer noch so viel kennenlernen.“ Phänomenal! Ihr Lieblingsbuch ist gerade „Unzertrennlich“ von Irvin D. Yalom, aber das nur nebenbei.
Ihr Mann Hermann ist 94, sechs Kinder sind in dieser Wohnung aufgewachsen, vier leben verteilt in Deutschland. Hamburg, Berlin, München. „Aber im Sommer oder auf dem Weg in den Süden machen sie immer noch hier für einige Tage Halt!“ Seit dem 1. März 1961 wohnen sie hier. „Damals betrug die Miete für den Quadratmeter 1,45 Mark.“ Mehr als 100 Personen hätten sich beworben, aber sie hätten den Zuschlag bekommen, weil sie damals schon vier Kinder hatten. Der Vermieter meinte, es sei doch eine Sünde, wenn er nun an ein kinderloses Ehepaar vermieten würde.

„Als wir einzogen“, erinnert sich Brigitte Homburger, „stand da ein Blumenkorb des Vermieters, den wir noch nie gesehen hatten.“ Dazu ein Brief, in der er der Familie eine gute Hausgemeinschaft wünschte. Und dass sie sich wohlfühlen mögen! Hermann Homburger bestätigt: „Das ist so geblieben!“ Während Corona hätten die Nachbarn „rechts und links“ immer wieder angefragt, ob sie etwas einkaufen sollen. Oder hätten angeboten, Lebensmittel hochzutragen.
„Eine Zeit lang gab es hier wenig Kinder“, erinnert sich seine Frau. Ihre Sprösslinge seien mit den anderen erwachsen geworden, dann ausgezogen. Da wurde es eine Weile ruhig. Aber jetzt höre man gerade im Hinterhof wieder das Lärmen der Jüngsten. „Und wenn man abends mit dem Auto in den Hof fährt, muss man erst einmal Roller und Spielgerät wegräumen.“
Bewohner kommen und gehen, die Homburgers bleiben. Noch immer führt sie jeden Morgen ihr erster Gang ans Fenster. Jeden Tag ist es schön. Und jeden Tag ist er anders – der See, der mit dem Blau des Pullovers von Frau Homburger um die Wette strahlt.