Für Schriftsteller Martin Walser sind Tagebücher „Antworten auf die Unzumutbarkeiten des menschlichen Daseins, also Fiktion“. In Coronazeiten wie diesen erscheint das Dasein als gelebter Zukunftsroman. Es wirkt erdacht, ist aber saumäßig real. Haben wir‘s erlebt oder nicht? Ein Tagebucheintrag hilft:
Freitag, 13. März, in den Abendstunden: Anruf bei Radolfzells Stadtpfarrer Heinz Vogel wegen den Gottesdiensten. Sagt der Pfarrer so nebenbei: Es sei doch erstaunlich, da hätten viele Angst, dass die Despoten uns in den Abgrund treiben „und dann hebt so ein kleiner Virus die Welt aus den Angeln“.
Montag, 16. März, kurz nach 11 Uhr: Stühle hoch und alle verschwunden. Schüler weg, Lehrer weg, Unterricht in alter Form wird zur reinen Vorstellung. Was früher einmal die schönste Form der Utopie war – Schulzeit ohne Lehrer, Unterricht ohne Schüler – dieser Entwurf wird grausame Wirklichkeit.
Montag, 16. März, etwa 17.30 Uhr: In der zweiten Corona-Pressekonferenz gibt OB Martin Staab die Form des künftigen Regierungshandelns bekannt. Die Sitzungen des Gemeinderats fallen aus, es muss auf die engagierten Debattenbeiträge der Stadträte verzichtet werden. Eine so für Radolfzell nie denkbare Utopie wird von heute auf morgen Wirklichkeit.
Montag, 16. März, 18 Uhr: Das Radolfzeller Kaufhaus Kratt ahnt die bevorstehende Schließung der Einzelhandelsgeschäfte voraus. Hermann Kratt schreibt auf der Facebook-Seite des Unternehmens: „Wir wissen nicht, zu welchen Einschränkungen es noch kommen wird und wir können die wirtschaftlichen Folgen nicht absehen. Aber wir wollen Ihnen sagen, dass wir für Sie da sind! Noch dürfen wir unser Geschäft für Sie offenhalten und sind für Ihre Anliegen erreichbar! Dies gilt auch, wenn wir unser Geschäft aufgrund einer Verordnung schließen müssen. Seit 100 Jahren haben wir viele Krisen erlebt und überstanden! Jedoch nur mit der Solidarität und Verbundenheit von Ihnen – unseren Kunden.“ Auf diesen Post bekommt das Kaufhaus 109 Likes.
Dienstag, 17. März, 9 Uhr: Home-Learning trifft Home-Office. Oder in Zeiten wie diesen bekommen Eltern eine Schnellbleiche in Sachen Einfühlungsvermögen für gebeutelte Lehrerseelen. Unterricht zu Hause und Heimarbeit müssen noch zusammenwachsen.
Dienstag, 17. März, 16.12 Uhr: Die Pressestelle im Rathaus schickt eine E-Mail in die Redaktion: „Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir heute keine Pressekonferenz abhalten.“ Oh, eine kurze Corona-Pause.
Die Kolumne: Das Corona-Tagebuch der Redaktion Radolfzell begreift sich als hoffentlich vorübergehende Erscheinung.