Kaum war die bisher zu kleine Kirche abgerissen und die neue erbaut, war die Christuskirche in Radolfzell fast schon wieder zu klein. Denn zur Eröffnung am 26. Februar 1967 kamen so viele Menschen zum ersten Gottesdienst, dass viele im Hof standen oder sich den Gottesdienst im Kindergarten anhörten. Dort war eine Lautsprecheranlage installiert. Das berichtete der SÜDKURIER.

Der erste Gottesdienst im neuen Gotteshaus war sehr gefragt.
Der erste Gottesdienst im neuen Gotteshaus war sehr gefragt. | Bild: Kirchenarchiv

Die Optik der neuen Kirche sorgte damals für Diskussionen und ist bis heute ein Thema. Aktuell stehen Renovierungs- und Sanierungsarbeiten an, welche laut Pfarrer Christian Link in den nächsten fünf Jahren nötig sind. Dabei soll die Christuskirche auch freundlicher werden.

Es war ein langer Weg, bis die neue Christuskirche gebaut werden konnte. „Nach Überwindung mannigfacher zeitraubender Hindernisse erhält die evangelische Kirchengemeinde einen neuen Mittelpunkt“, schrieb der damalige Bürgermeister Hermann Albrecht in der Festschrift zur Einweihung. Bis es so weit war, gab es planerische und finanzielle Probleme. „Der Weg für bauliche Maßnahmen an der kleinen und mit statischen Fehlern behafteten Kirche war aber noch nicht frei“, schrieb Erwin Barth in der gleichen Festschrift, nachdem 1953 der evangelische Kindergarten eingeweiht worden war. Barth war Schulleiter in Radolfzell, im Kirchengemeinderat aktiv und verfasste die „Geschichte der evangelischen Kirchgemeinde Radolfzell“. Vor der Christuskirche wurde die Paul-Gerhardt-Kirche in Böhringen gebaut.

Bis 1963 stand die alte, kleine evangelische Kirche an der Ecke Bismarck- und Brühlstraße in Radolfzell. Bilder: Kirchenarchiv
Bis 1963 stand die alte, kleine evangelische Kirche an der Ecke Bismarck- und Brühlstraße in Radolfzell. Bilder: Kirchenarchiv | Bild: privat

Baustopp nach Gesetzesänderung

Sechs Jahre vergingen vom ersten Gespräch von Kirchen- und Gemeindevertretern im Jahr 1961 bis zum Bau. 1962 entschied sich der Kirchengemeinderat für den Architekten Roland Mayer und am 1. September 1963 gab es den letzten evangelischen Gottesdienst in der alten Kirche von 1899. Gläubige kamen während der Bauzeit in der katholischen St. Meinradkirche unter. Doch im Dezember 1965 hieß es: „Für den Bereich der Landeskirche wird sofort ein Baustopp verfügt“, schrieb Erwin Barth. Grund war das Verbot der Kirchenbausteuer. Radolfzell sei als Ausnahmefall behandelt worden, diese Steuerquellen waren aber versiegt.

Wegen Planänderungen und finanzieller Probleme verging ein wenig Zeit, bis hier die Christuskirche entstand.
Wegen Planänderungen und finanzieller Probleme verging ein wenig Zeit, bis hier die Christuskirche entstand. | Bild: Kirchenarchiv
Grundsteinlegung für den Neubau war am ersten Advent 1965. Das Interesse an diesem besonderen Gottesdienst war groß.
Grundsteinlegung für den Neubau war am ersten Advent 1965. Das Interesse an diesem besonderen Gottesdienst war groß. | Bild: privat

„Sie hatten wenig Geld“, erinnert sich Elly Pitzel. Sie kam 1974 nach Radolfzell und gehörte zu jenen Frauen, die Brötchen für Feste schmierten. „Das haben die Frauen mit Kuchenbacken und Aktionen erwirtschaftet“, sagt Pitzel über den Kirchenneubau. Außerdem wurde während der Bauzeit beispielsweise das Pfarrhaus auf der Mettnau verkauft.

Im Grundstein befand sich auch ein SÜDKURIER.
Im Grundstein befand sich auch ein SÜDKURIER. | Bild: Kirchenarchiv

Doch was da entstand, stimmte nicht jeden froh. Bei einem Dankwort zur Einweihung äußerte Erwin Barth laut SÜDKURIER, „dass der moderne Kirchbau wegen seiner eigenwilligen Form im Kreuzfeuer der Meinungen steht“.

Der Neubau, wie er bis heute an der Bismarck- Ecke Brühlstraße steht.
Der Neubau, wie er bis heute an der Bismarck- Ecke Brühlstraße steht. | Bild: Kirchenarchiv

„Das muss ein großer Streit und Zank gewesen sein“, schildert Elly Pitzel, die von 2002 bis 2008 Kirchenälteste war. Damals hätten Kirchenälteste ihr Amt niedergelegt, manch Gemeindemitglied habe der Christuskirche den Rücken gekehrt. Der heutige Pfarrer Christian Link teilt diesen Eindruck, nachdem er damalige Kirchengemeinderats-Protokolle gewälzt hat: „Irgendwas war da, doch das lässt sich nicht mehr nachvollziehen.“

Ein funktionaler Bau seiner Zeit

Klar ist: Die Christuskirche ist ein Zeugnis ihrer Zeit. „Heute sind funktionelle und wirtschaftliche Voraussetzungen kirchenbautragend“, schrieb der Architekt Roland Mayer in der Festschrift, auch wenn Haltung, Einstellung, Glaube und der emotionelle Wunsch zum Kirchbau weiter grundlegend seien. „Es ist kein Raum, der Geborgenheit vermittelt“, sagt Link. Der Pfarrer sieht aber auch Vorteile: Die Akustik sei gut, der Raum habe Atmosphäre und werde sofort lebendig, sobald Menschen darin sind. Und an die eigenwillige Wand aus Kalkstein habe er sich gewöhnt.

Pfarrer Christian Link hat sich an die Kalksteinwand der Christuskirche gewöhnt. Bild: Isabelle Arndt
Pfarrer Christian Link hat sich an die Kalksteinwand der Christuskirche gewöhnt. Bild: Isabelle Arndt | Bild: Isabelle Ardnt

Er sieht die Architektur der 60er-Jahre als Zeichen der Kriegserfahrung: klare Strukturen geben Sicherheit, Beton vermittelt den Schutz der Bunker. Architekt Mayer schrieb, dass sich der Kirchenraum hinter massiven gestaffelten Wandteilen verschanzt.

Die Raumaufteilung der Christuskirche, die als Mittelpunkt der Gemeinde angelegt ist.
Die Raumaufteilung der Christuskirche, die als Mittelpunkt der Gemeinde angelegt ist. | Bild: Kirchenarchiv

Jede Kirchenältesten-Gruppe habe versucht, die Kirche schöner zu machen, erinnert sich Pitzel. Das könnte nun Realität werden: Weil nach über 50 Jahren der Zahn der Zeit an der Christuskirche nagt, sollen Dach, Heizung, Elektrik, Boden und Sanitäranlage erneuert werden. Das berichtet Pfarrer Christian Link und verweist auch auf Brandschutzbestimmungen, die aktuell nicht erfüllt seien. Dabei soll die Kirche auch heller und freundlicher werden, konkrete Angaben stehen noch aus. Im Juli vergangenen Jahres habe aber bereits ein Architektenwettbewerb stattgefunden – für maximale Transparenz, um den Fehler des damaligen Kirchenneubaus nicht zu wiederholen, wie Link sagt. Dabei habe sich der Kirchengemeinderat für das Architekturbüro Prinz aus Ravensburg entschieden.

Nach 50 Jahren wieder neue Pläne

Eine erste Kostenschätzung rechnet mit 2,4 Millionen Euro, wovon die Hälfte bezuschusst werde. Um die restlichen 1,2 Millionen Euro tragen zu können, hofft Pfarrer Link auch auf Spenden. Rund 30 000 Euro seien schon zusammen gekommen, zwischen 150 000 und 200 000 Euro könnten es in den nächsten Jahren sein. Dafür hat Elly Pitzel beispielsweise schon Spendenbüchsen in der Stadt verteilt, wo Spendenwillige ihr Kleingeld sammeln können.

Dabei hat sich die Christuskirche auch in den vergangenen Jahren gewandelt: „Wir haben noch das Hängegestell mit den Glocken auf der Erde erlebt“, erinnert sich die einstige Kirchenälteste Pitzel.

Bis 1981 standen die Glocken vor dem Eingang, dann erst wurde der Kirchturm gebaut.
Bis 1981 standen die Glocken vor dem Eingang, dann erst wurde der Kirchturm gebaut. | Bild: privat

Der Turm kam 1981 hinzu, nachdem zuvor die Mittel fehlten. Auch alte Schätze fanden wieder einen Platz, darunter der Taufstein oder ein Stück des einstigen Kirchenfensters.

Der Taufstein aus der alten Kirche kam erst vor wenigen Jahren in die Christuskirche, nachdem er lange privat oder im Museum aufbewahrt ...
Der Taufstein aus der alten Kirche kam erst vor wenigen Jahren in die Christuskirche, nachdem er lange privat oder im Museum aufbewahrt wurde. | Bild: Isabelle Ardnt

Pfarrer Christian Link hat außerdem rote Sofas in den Raum gestellt – als Einladung zum Innehalten, Funktionsbau hin oder her.

Vor 114 Jahren entstand eigene Pfarrei

  • Die Geschichte der christlichen Gemeinde in Radolfzell geht bis 1863 zurück, damals wurde laut Chronik von Erwin Barth erstmals von einem württembergischen Pfarrer vor 14 Gläubigen gepredigt. Sechs Jahre später wurde ein badischer Geistlicher eingesetzt, der im November 1969 erstmals in Radolfzell predigte. Selbstständige Pfarrei wurde Radolfzell erst 1904, nachdem die Gemeinde bis 1883 zu Singen und dann zu Stockach gehörte.
  • Die erste evangelische Christuskirche an der Bismarckstraße/Ecke Brühlstraße in Radolfzell wurde am 27. August 1899 eingeweiht. Der damals bestehende Turm sollte bei dem Neubau in den 1960er-Jahren eigentlich integriert werden, wurde dann jedoch nach einer weiteren Untersuchung ebenfalls abgerissen. „Damit ist der Weg zu einer freien, ungebundenen Bauplanung gegeben", schrieb Barh. Den evangelischen Kindergarten gab es bereits seit 1953 südlich der Kirche.
  • Die Zahl der Gemeindemitglieder nahm im Lauf des vergangenen Jahrhunderts stetig zu. 1890 waren es laut Erwin Barth 262 Gläubige, 1930 dann 1028, 1950 bereits 1759 und im Jahr 1965 dann 4674 Protestanten. Mit allen Außenorten waren es Stand 1965 5948 Gläubige. Heute hat die evangelische Kirchengemeinde in Radolfzell laut Pfarrer Christian Link rund 4700 Mitglieder. (isa)