Jutta Pagel-Steidl kennt die Problematik aus eigener Anschauung, die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung ist selbst auf einem Auge blind. Auf Anregung und Einladung des Landtagsabgeordneten Jürgen Keck mit Behindertenbeauftragen aus Stadt und Kreis begutachtet sie neuralgische Stellen in Radolfzell. Voraus schickt Jutta Pagel-Steidl den Satz: „Rollstuhl ist nicht gleich Rollstuhl, blind ist nicht gleich blind.“
Besserer Tritt beim Buseinstieg
Die Geschäftsführerin des Landesverbands macht klar, dass die Sache mit der Barrierefreiheit nicht so einfach ist, wie es sich der Mensch mit zwei beweglichen Beinen und notfalls mit einer Brille ertüchtigten Augen denkt. Gerade auf Menschen mit Sehbehinderung lauern Tücken, die Sehende schwer entdecken. Die neuen Bordsteine an den Bushaltestellen in der Konstanzer Straße mit genoppten Oberflächen für einen besseren Tritt am Buseinstieg und die weißen Leitstreifen bekommen von Jutta Pagel-Steidel ein anerkennendes Nicken. An diesen Rippenplatten ertastet der Blinde über seinen Stock die richtige Position an der Haltestelle.

Dass diese Leitstreifen noch nicht an allen neuen Bushaltestellen in der neu gebauten Konstanzer Straße verlegt sind, kann Uwe Negrassus vom Tiefbauamt der Stadt schnell erklären: „Deutschlandweit waren die Blindenleitstreifen vergriffen.“ Viele Kommunen bauen gerade ihre Bushaltestellen barrierefrei um. „Aber die beauftragten Unternehmen haben zugesichert, die Bushaltestellen damit nachzurüsten.“
Auf den Kontrast der Pflasterung kommt es an
Diesen Engpass kann Jutta Pagel-Steidl nachvollziehen, doch damit ist sie nicht zufrieden. Kritisch prüft sie den Begleitstreifen. „Der Kontrastwert dieser Pflasterung scheint mir zu gering.“ Sie zückt ihr „DIN Taschenbuch 199 – barrierefreies Planen und Bauen, sechste Auflage“, für sie eine Prüfbibel, mit der sie Techniker zum Einlenken bringt: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Gespür für die Belange der Behinderten bei Tiefbauarbeiten nicht so vorhanden ist“, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbands. Uwe Negrassus versichert ihr, dass die Stadt Radolfzell dieses Gespür entwickeln will: „Keine Frage, wenn der Wert nicht stimmt, bessern wir nach.“
Das Kopfsteinpflaster die Schützenstraße hinauf und hinunter am Rathaus vorbei ist für Rollstuhlfahrer eine echte Buckelpiste und für Sehbehinderte eine fortgesetzte Stolperfalle. Der Blinde orientiere sich meist am Straßenrand, „in den Kleiderständer stolper‘ ich rein“, beschreibt Jutta Pagel-Steidl die sich auftürmenden Barrieren. Ähnlich gefährlich seien die Außenbewirtschaftungen von Gaststätten oder Straßenschilder, die genau dort stünden, wo der behinderte Fußgänger seinen Weg suche, etwa das Fußgängerzonenschild auf dem Moustelonplatz.

Für die Buckelpiste auf der Schützenstraße verspricht Uwe Negrassus baldige Besserung. „Wir haben für ein Sanierungspaket in der Innenstadt 100 000 Euro im Haushalt eingestellt.“ Ähnlich wie auf dem Verbindungsstück zwischen Teggingerstaße und Löwengasse sollen Pflastersteine abgeschliffen und ausgefugt werden. Sowohl Anschieber Negrassus wie die Singener Behinderbeauftragte Helga Schwall im Rollstuhl bekunden nach einer kurzen Testfahrt: „Viel besser als in der Schützenstraße.“
Keck sagt: Radolfzell soll besser werden
Überall, wo die Geschäftsführerin des Landesverbands genauer hinschaut, entdeckt sie Mängel: „Nur wer redet, wird wahrgenommen“, sagt Jutta Pagel-Steidl. Deshalb hat Jürgen Keck die Expertin nach Radolfzell eingeladen: „Es geht um das Recht, am öffentlichen Leben teilzunehmen“, sagt der Abgeordnete. Als Stadtrat sagt Keck: „Wir müssen besser werden.“
Check im Rathaus
- Die Behindertentoilette: Das Behinderten-WC im Rathaus Radolfzell bekommt von Jutta Pagel-Steidl keine gute Note. „Das Notrufseil muss bis auf den Boden gehen“, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung. Im Rathaus ist das Notrufseil zu kurz. Wenn Behinderte zu Fall kämen, könnten sie das Seil nicht ziehen. Zudem fehle die Rückenstütze am WC, den Seifenspender könne man vom Rollstuhl aus nicht erreichen.
- Aufzug und Handlauf: Der Aufzugknopf sei mit dem Rollstuhl nicht anfahrbar, er müsste an der Wand neben dem Aufzug angebracht sein. Auch der Handlauf im Rathauseingang sei zu kurz. Er fehle als Stütze vor der ersten und nach der letzten Stufe.