Jutta Pagel-Steidl kennt die Problematik aus eigener Anschauung, die Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung ist selbst auf einem Auge blind. Auf Anregung und Einladung des Landtagsabgeordneten Jürgen Keck mit Behindertenbeauftragen aus Stadt und Kreis begutachtet sie neuralgische Stellen in Radolfzell. Voraus schickt Jutta Pagel-Steidl den Satz: „Rollstuhl ist nicht gleich Rollstuhl, blind ist nicht gleich blind.“

Besserer Tritt beim Buseinstieg

Die Geschäftsführerin des Landesverbands macht klar, dass die Sache mit der Barrierefreiheit nicht so einfach ist, wie es sich der Mensch mit zwei beweglichen Beinen und notfalls mit einer Brille ertüchtigten Augen denkt. Gerade auf Menschen mit Sehbehinderung lauern Tücken, die Sehende schwer entdecken. Die neuen Bordsteine an den Bushaltestellen in der Konstanzer Straße mit genoppten Oberflächen für einen besseren Tritt am Buseinstieg und die weißen Leitstreifen bekommen von Jutta Pagel-Steidel ein anerkennendes Nicken. An diesen Rippenplatten ertastet der Blinde über seinen Stock die richtige Position an der Haltestelle.

Kritischer Blick auf die Tiefbauarbeiten in der Konstanzer Straße (von links): Uwe Negrassuss, Jutta Pagel-Steidl und ...
Kritischer Blick auf die Tiefbauarbeiten in der Konstanzer Straße (von links): Uwe Negrassuss, Jutta Pagel-Steidl und FDP-Landtagsabgeordneter Jürgen Keck prüfen bei einem Rundgang die Barrierefreiheit. | Bild: Becker, Georg

Dass diese Leitstreifen noch nicht an allen neuen Bushaltestellen in der neu gebauten Konstanzer Straße verlegt sind, kann Uwe Negrassus vom Tiefbauamt der Stadt schnell erklären: „Deutschlandweit waren die Blindenleitstreifen vergriffen.“ Viele Kommunen bauen gerade ihre Bushaltestellen barrierefrei um. „Aber die beauftragten Unternehmen haben zugesichert, die Bushaltestellen damit nachzurüsten.“

Auf den Kontrast der Pflasterung kommt es an

Diesen Engpass kann Jutta Pagel-Steidl nachvollziehen, doch damit ist sie nicht zufrieden. Kritisch prüft sie den Begleitstreifen. „Der Kontrastwert dieser Pflasterung scheint mir zu gering.“ Sie zückt ihr „DIN Taschenbuch 199 – barrierefreies Planen und Bauen, sechste Auflage“, für sie eine Prüfbibel, mit der sie Techniker zum Einlenken bringt: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Gespür für die Belange der Behinderten bei Tiefbauarbeiten nicht so vorhanden ist“, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbands. Uwe Negrassus versichert ihr, dass die Stadt Radolfzell dieses Gespür entwickeln will: „Keine Frage, wenn der Wert nicht stimmt, bessern wir nach.“

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Das Kopfsteinpflaster die Schützenstraße hinauf und hinunter am Rathaus vorbei ist für Rollstuhlfahrer eine echte Buckelpiste und für Sehbehinderte eine fortgesetzte Stolperfalle. Der Blinde orientiere sich meist am Straßenrand, „in den Kleiderständer stolper‘ ich rein“, beschreibt Jutta Pagel-Steidl die sich auftürmenden Barrieren. Ähnlich gefährlich seien die Außenbewirtschaftungen von Gaststätten oder Straßenschilder, die genau dort stünden, wo der behinderte Fußgänger seinen Weg suche, etwa das Fußgängerzonenschild auf dem Moustelonplatz.

„Dackelhaft“: Mit diesem schwäbischen Kraftausdruck hat Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl vom Landesverband für Menschen ...
„Dackelhaft“: Mit diesem schwäbischen Kraftausdruck hat Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl vom Landesverband für Menschen mit Behinderung das Fußgängerzonenschild auf dem Moustelon-Platz belegt. | Bild: Becker, Georg

Für die Buckelpiste auf der Schützenstraße verspricht Uwe Negrassus baldige Besserung. „Wir haben für ein Sanierungspaket in der Innenstadt 100 000 Euro im Haushalt eingestellt.“ Ähnlich wie auf dem Verbindungsstück zwischen Teggingerstaße und Löwengasse sollen Pflastersteine abgeschliffen und ausgefugt werden. Sowohl Anschieber Negrassus wie die Singener Behinderbeauftragte Helga Schwall im Rollstuhl bekunden nach einer kurzen Testfahrt: „Viel besser als in der Schützenstraße.“

Keck sagt: Radolfzell soll besser werden

Überall, wo die Geschäftsführerin des Landesverbands genauer hinschaut, entdeckt sie Mängel: „Nur wer redet, wird wahrgenommen“, sagt Jutta Pagel-Steidl. Deshalb hat Jürgen Keck die Expertin nach Radolfzell eingeladen: „Es geht um das Recht, am öffentlichen Leben teilzunehmen“, sagt der Abgeordnete. Als Stadtrat sagt Keck: „Wir müssen besser werden.“