Michaela Hoffman ist sich nach fast 20 Monaten andauernder Pandemie ziemlich sicher: „Man braucht eine sehr große Grundstabilität, um durch diese Zeit durchzugehen.“ Doch wie ist es um diejenigen bestellt, bei denen bereits der gewöhnliche Tag eine große Herausforderung darstellt – für psychisch Erkrankte?

Das sei sehr schwer, so die ausgebildete Altentherapeutin. Seit 2014 leitet sie in der Tegginger Straße den Anker – einen offenen Wochentreff der Diakonie für psychisch Erkrankte. In diesem Jahr habe sie mehr Klienten gehabt, die in einer Klinik wie dem Zentrum für Psychiatrie untergebracht waren. „Das ist deutlich angestiegen. Mit viel längeren Aufenthalten.“ Einige seien über Monate hinweg in der Klinik gewesen, weil sie mit der Situation der Pandemie nicht umgehen konnten: Mit der Angst vor einer Ansteckung, mit der Isolation oder mit der Einsamkeit während einer Quarantäne. Michaela Hoffmann zitiert hier die Erfahrungen einer Psychiaterin aus dem Kreis Konstanz: „So krank wie in den vergangenen zwei Jahren war unsere Klientel noch nie.“

Mehr Klinikaufenthalte

Ähnliches berichtet die Fachbereichsleiterin bei der Diakonie, Anke Brednich vom Konstanzer Begegnungstreff Brücke: „Bei chronisch Erkrankten gibt es Phasen, bei denen die Hälfte der über 40-Jährigen regelmäßig stationäre Aufenthalte in Kliniken haben – mit ganz verschiedenen Anstößen, die solche Krisen auslösen.“ Und das habe sich durch die Pandemie verstärkt, wie sie aus dem Konstanzer Treff für psychisch Erkrankte ergänzen könne: „Viele Leute, die eine Form von Angststörung haben, werden durch die zusätzliche Angst vor einer Infektion in ihrer Angststörung bedient und steigern diese noch.“

Wohnungssuche wird zur Unmöglichkeit

Auch für jüngere Klienten, die noch zu Hause bei ihren Eltern leben und eine Wohnung suchen, sei die Corona-Pandemie eine sehr große Herausforderung, so der Geschäftsführer bei der Radolfzeller Diakonie, Christian Grams. Michaela Hoffmann erläutert die Situation am Beispiel zweier Klienten an der offenen Begegnungsstätte Anker: Grundsätzlich hätten sie mehr Hemmungen, sich Vermietern vorzustellen. Das Schreiben der Bewerbungen mache keine Mühe. Die Besichtigung einer Wohnung mit vielen anderen Interessenten vergrößere die Hemmungen und die Ängste vor eine Ansteckung.

Viele Betroffene lebten bereits vor dem Pandemie-Ausbruch isoliert. Sie hätten nur wenige Freunde und Verwandte und wenige Kontakte. „Die Einrichtungen in Radolfzell und Konstanz waren eine der wenigen Begegnungsmöglichkeiten, die psychisch Erkrankte überhaupt hatten“, berichtet Fachbereichsleiterin Brednich. Als mit dem Ausbruch der Pandemie die Maßgabe herauskam, diese wenigen Kontakte zu reduzieren und sie zu Hause bleiben mussten, sei ihren Klienten nichts mehr geblieben. „Auch digitale Medien und Videokonferenzen waren für viele, die wir im Blick haben, nicht möglich“, sagt Christian Grams.

Verlagerung ins Digitale oft nicht möglich

Viele Klienten aus dem Anker seien gar nicht in der Lage, einen Video-Anruf zu führen, so Michaela Hoffmann: Den Jüngeren fehle der PC, den Älteren das Know-How und viele benötigten im Alltag kein modernes Handy. Nach dem ersten Lockdown wurde dem Gesetzgeber bewusst, dass die über ein halbes Jahr geschlossenen Einrichtungen systemrelevant waren. Sie blieben mit Hygienekonzepten über den zweiten Lockdown hinweg geöffnet.

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Michaela Hoffmann kennt durch ihre Ausbildung zur Altentherapeutin die Raffinessen, wie man Menschen zu einer Gruppe zusammenbringt und wie man Kontakte so herstellt, dass sich die Menschen auch privat treffen. Immer wieder hätten sich die Menschen während der Schließung des Ankers zu zweit oder zu dritt getroffen, freut sich Hoffmann über ihre Klienten. Via Telefon hatte sie den Kontakt beim ersten Lockdown aufrecht gehalten.

Gute Kontakte untereinander

Das sei nur deshalb gut gegangen, weil über Jahre zwischenmenschliche Beziehungen zu ihren Klienten entstanden seien, die es ermöglichten, dass sich die Menschen auch am Telefon öffnen konnten. Als der Anker im September 2020 seine Tore öffnen durfte, kam die Hälfte der Klienten nicht wieder. Die Angst vor einer Ansteckung sei riesengroß, sagt die Altentherapeutin über die Zeit, in der es keinen Impfstoff gab.

Treffen mit Maske? Eher nicht...

Aktuell seien sämtliche Klienten geimpft. Über einen sehr langen Zeitraum seien noch fünf Personen zu dem Treff gekommen. Doch seit letzter Woche und mit der Verschärfung der Corona-Regeln zur Eindämmung der Omikronvariante des Krankheitserregers sollten die Menschen nun auch in geschlossenen Räumen beim Sitzen Masken tragen. Doch das stellt für die beiden zuletzt verbliebenen Klienten eine große Belastung dar. Sie stellten sich die Frage, ob sie weiterhin kommen. Es scheint, dass mit der vierten Welle die psychisch Erkrankten erneut in ein unfreiwilliges Exil und in eine innere, schmerzhaft empfundene, Immigration gehen – mit all ihren Hemmungen und ihren Ängsten.