Walter Hiller (78) versteckt sich oft hinter einem etwas mürrischen Charme. Mal ist er Schutzschirm, mal ist er Warnung, nicht selten beides. „Schöner werd‘ ich nimmer“, knurrt er auf seinem Platz im Bürgersaal in Richtung Redakteur, der ihn um eine Kopfwendung hin zur Kamera bittet.

Und dann kommt er der Bitte doch nach. Sein mürrischer Charme ist auch ein Suchen nach Kontrolle. Nach fünf Jahrzehnten politischer Arbeit im Gemeinderat Radolfzell aber weiß Hiller, es gibt sie nicht, diese Kontrolle. Die Kontrolle über ein Thema, über eine Situation, über eine Debatte, über das eigene Eingeordnetwerden. Auch wenn er sie gerne hätte, selbst in diesen Momenten, wenn er für alle sichtbar herausgehoben wird.

Es ist kein privates Datum

Dagegen kann Walter Hiller sich nicht wehren. 50 Jahre Stadtrat in Radolfzell zu sein, das ist nicht ein privates Datum, das ist ein Ereignis für die Öffentlichkeit. Der Städtetag Baden-Württemberg verleiht das Verdienstabzeichen in Gold mit Lorbeerkranz und Brillant, die Zeremonie übernimmt natürlich der Oberbürgermeister in einer öffentlichen Sitzung mit den zu erwartenden warmen Worten.

Erfolge und Misserfolge des Walter Hiller

Also fügt er sich und begehrt doch ein bisschen auf. Wie es nicht anders von Walter Hiller zu erwarten ist. Das beschreibt OB Simon Gröger in seiner Lobesrede: „Sie scheuen sich nicht davor, in Debatten Farbe zu bekennen.“ Wo Gröger von Erfolgen spricht wie die Einrichtung der Fußgängerzone 1983 oder dem Bau der Günter-Neurohr-Brücke im Jahr 2000 und davon, dass Hiller unter fünf Oberbürgermeistern nie Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen sei, da spricht Walter Hiller nach Ehrung und Erhalt des Geschenkkorbs davon, was in dieser Zeit nicht funktioniert hat: „Die Seetorquerung.“

Dass sie nicht als Verbindung zum See gekommen ist, das kreidet der Stadtrat in der Stunde der Ehrung seinen Kontrahenten im Gemeinderat und dem Vorgänger von Gröger an: „Mit Angst und Zahlen kann man auch Politik machen.“

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Dabei muss man zur Ehrenrettung der Kritisierten sagen, auch Walter Hiller weiß, Politik zu machen. Mit Kalkül und Ausdauer kann er in Debatten seinen Kontrahenten auf die Nerven gehen. Wenn etwa Siegfried Lehmann von der Freien Grünen Liste sich zwei Mal zu Wort meldet, macht das Walter Hiller auch. Und so lange wie Lehmann kann er schon lange reden. Egal, wie weit die Stunde in der Beratung fortgeschritten ist. Als hätte Walter Hiller eine innere Stoppuhr, mit der er die Redebeiträge der anderen misst und seine Redezeit danach auslegt.

Walter Hiller bei einem Interviewtermin in der SÜDKURIER-Redaktion im Jahr 2017.
Walter Hiller bei einem Interviewtermin in der SÜDKURIER-Redaktion im Jahr 2017. | Bild: Becker, Georg

Wann Walter Hiller mit einer Entscheidung wirklich zufrieden ist, das bleibt schwer abzuschätzen. Seine Neigung zur Euphorie bewegt sich in einem streng abgesteckten Rahmen, diese Eigenschaft hat er bei der Ehrung für 50 Jahre im Gemeinderat aufblitzen lassen: „Ich bedanke mich für die freundlichen Worte, es war eine schöne, aber auch stressige Zeit.“

Sein Projekt: Das Pflegeheim

Schon 1972 sei er im Wahlkampf mit dem Projekt Neubau eines Pflegeheims, „damals hieß das noch Altersheim“, angetreten. Nach 50 Jahren im Gemeinderat ist jetzt wenigstens der Rohbau auf der Mettnau fertig. Das habe ihn über all die Jahre angetrieben: „Es waren immer einzelne Projekte, die nicht fertig waren und die ich voranbringen wollte, deshalb habe ich immer wieder kandidiert.“

OB Fritz Riester (rechts) übergibt Walter Hiller die Ernennungsurkunde zum Stadtrat 1973 mit einem Jahr Verspätung. Die beiden kannten ...
OB Fritz Riester (rechts) übergibt Walter Hiller die Ernennungsurkunde zum Stadtrat 1973 mit einem Jahr Verspätung. Die beiden kannten sich von der Jugend auf und hatten ein vertrauensvolles Verhältnis. | Bild: Archivbild Liedl

Dass es diese Entwicklung für Walter Hiller genommen hat, überrascht ihn in gewisser Weise selbst. „Eigentlich sollte mein Vater auf die Liste der SPD.“ Doch weil Vater Kurt Hiller nicht wollte, nahmen die Genossen Sohn Walter Hiller als Kandidaten auf. Er landete bei der Wahl so weit vorne, dass er im Oktober 1972 als Stadtrat der SPD für Heiner Wick in den Gemeinderat nachrückte.

Eine Ernennungsurkunde gab‘s erst ein Jahr später aus der Hand von OB Fritz Riester. Walter Hiller kann sich das Kuriosum heute nur so erklären: „Weil sie es in der Verwaltung vergessen haben und ich habe nicht gewusst, dass es eine Ernennungsurkunde gibt.“

Er kritisierte schon vor Jahrzehnten den OB

Das spricht für eine gewisse Unbekümmertheit beim 1972 gerade 28-jährigen Walter Hiller. Die hatte er noch sechs Jahre später. Da war er bereits Sprecher der SPD-Fraktion im Gemeinderat und stellte sich den Fragen von SÜDKURIER-Redakteur Wolfgang Eßig. Der seit 1976 amtierende OB Günter Neurohr triezte die Stadträte mit Vorlagen, die er erst drei bis vier Tage vor der Sitzung zustellte.

Walter Hiller kritisierte das Vorgehen als „taktisches Timing“ und stellte fest: „Durch die jetzige Taktik werden junge Leute abgeschreckt, in der Kommunalpolitik mitzuarbeiten. Der Gemeinderat wird allmählich ein Altmännerclub.“ Eine Beobachtung, die losgelöst von den damaligen Umständen, in Teilen auch heute gilt.

Von der SPD zu den Freien Wählern

Die „jungen Wilden“ in der SPD Radolfzell waren dann in den Achtzigerjahren Auslöser, warum der Kaufmann Walter Hiller 1987 ins Lager der Freien Wählern wechselte. Obwohl, Walter Hiller würde seine Kontrahenten von damals nicht als jung und wild bezeichnen, sondern als die Lehrerriege: „Die haben damals die SPD übernommen.“ Hiller war für den Kiesabbau, die Lehrer dagegen. Hiller unterstützte die Pläne von Günter Neurohr, eine Stadthalle am See zu bauen, die Lehrer in der SPD waren dagegen. „Das war dann nicht mehr meine Partei.“

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Bei den Freien Wählern darf Walter Hiller Walter Hiller sein. Fraktionszwang im herkömmlichen Sinn gibt es keinen. Immer wieder vertritt er dort eine ganz eigene Meinung. Die Fraktion der Freien Wähler hält das aus und gesteht diese Meinung jedem ihrer Mitglieder zu.

Die Nadel in der Tasche

Zum Verkehr, vor allem dem in der Haselbrunnstraße und gerne auch immer wieder zu Kreiseln, erhebt Walter Hiller nach wie vor die Stimme. Nur zu den Ehrungen, die ihn betreffen, da pflegt er eine gewisse Distanz. Vor zehn Jahren habe ihn OB Jörg Schmidt vor der Sitzung im Bürgersaal abgepasst: „Ich habe hier die Verdienstmedaille in Gold mit Lorbeerkranz für ihre 40 Jahre im Gemeinderat. Wie machen wir das?“ Hiller habe dem verdutzten OB Schmidt die Nadel mit den Worten abgenommen: „So, jetzt haben Sie mir die Auszeichnung überreicht, jetzt können wir ja weitermachen.“

Engagiert für die Freien Wähler: Stadtrat Walter Hiller bei einem Ortstermin 2018 im Strandbad Radolfzell.
Engagiert für die Freien Wähler: Stadtrat Walter Hiller bei einem Ortstermin 2018 im Strandbad Radolfzell. | Bild: Lange, Georg

Wäre es alleine nach Walter Hiller gegangen, es wäre mit dem Verdienstabzeichen in Gold mit Lorbeerkranz und Brillant zur 50-jährigen Tätigkeit genau so passiert. Doch auch das hat die kommunalpolitische Geschichte im vergangenen halben Jahrhundert gezeigt: Es geht manchmal, aber nicht immer nach dem Willen von Walter Hiller. Es gab Blumen und Beifall aus den Reihen des Gemeinderats.