Radolfzell Die Bilanz ist verheerend: Im Zweiten Weltkrieg wurden mehr als 60 Millionen Menschen getötet. Über sechs Millionen Juden wurden von den Deutschen ermordet. Nachdem das Deutsche Reich vor 80 Jahren am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, ging der Krieg in Japan weiter. Der Abwurf zweier Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki löschte 120.000 Leben aus. Die Stadt Radolfzell gedachte daher am Donnerstag, 8. Mai, mit einem Friedensfest im Stadtgarten und Rahmenprogramm dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Um 13.25 Uhr läuteten die Kirchenglocken im Münster das Fest ein. Um 23 Uhr erklangen sie erneut. Diesmal erinnerten sie an die Uhrzeit, als vor 80 Jahren die Glocken den Frieden einläuteten.
Den ganzen Tag Programm
Die Pfarrer der römisch-katholischen und evangelischen Kirche hielten auf dem Marktplatz Reden zur Erinnerungskultur und zur Versöhnung, Oberbürgermeister Simon Gröger sprach sich auf dem Luisenplatz für einen Dialog für den Frieden aus. Die Carl-Duisberg-Gesellschaft bot eine Kreativ-Werkstatt zum Thema Frieden und kulturelle Vielfalt an. Die Hausherrenschule gab Besuchern die Möglichkeit, an einer Friedenscollage mitzuwirken und ermunterte sie dazu, einen Frieden-Button herzustellen. Junge Menschen und Vereine zeigten im Stadtgarten ihre Beiträge und Interpretationen zu Krieg und Frieden. Und das Stadtmuseum gab eine kostenfreie Führung zur Sonderausstellung ‚Diktatur. Krieg. Und danach. Radolfzell 1933 bis 1945‘. Das Friedensfest wurde am Abend mit Vorträgen im Stadtmuseum und in der Christuskirche abgeschlossen.
„Erinnern ist eine schwierige Sache“, sagte der evangelische Pfarrer Alexander Phillip. Die meisten der 100 Anwesenden auf dem Marktplatz seien nicht dabei gewesen, als der Krieg vor 80 Jahren endete. Man kenne zwar die Erzählungen derer, die dabei waren. Die Menschen wüssten auch, was die Historiker zum Krieg sagen können. „Doch je weniger Zeitzeugen wir haben und je weniger Menschen wir haben, die wissen, was es heißt, den Krieg durchzumachen, Hunger zu leiden und Willkür und Menschenfeindlichkeit zu erleben, desto angefochtener ist die Erinnerung“, sagte Phillip. Er sprach sich dafür aus, dass man darauf achten sollten, nicht zu vergessen, wozu Menschen fähig seien, wenn ihnen uneingeschränkte Macht übertragen wird. Es seien Narben entstanden, die fortwirken und weiter schmerzen. Damit ein Neuanfang zwischen den Menschen und den Völkern entstehen konnte, sei es notwendig gewesen, Schuld einzugestehen, Unrecht zu benennen und das Böse offenzulegen.
Wie Schuld, Sühne und Versöhnung aussehen, hat der katholische Pfarrer Heinz Vogel unmittelbar erlebt. Denn in einer Begegnung vor 36 Jahren erfuhr er Unerwartetes: Eine Umarmung vor dem Haus von Widerstandskämpfern, die sich einst geschworen hatten, dass kein Deutscher mehr in deren Haus eintreten dürfe. In jenem Moment habe er die Verwobenheit in eine Geschichte, die seine Lebensdaten nicht ausmachten, durchlebt, sagte Vogel. Er hatte das Glück, später geboren worden zu sein. Pfarrer Vogel war aber durch seine Eltern und Großeltern, durch Nachbarn und durch seine Heimat mit dem Weltkrieg verwoben. Ihm sei deutlich geworden, dass er aus der Geschichte seiner Heimat nicht herauskommt. Die Umarmung habe ihm gezeigt, dass es ein Gegenüber braucht, das einen zum Neubeginn ermutigt, damit Aussöhnung und Versöhnung möglich werden. Solche Möglichkeiten habe es nach dem Krieg viele gegeben. Vogel sagte: „So konnte Europa zu dem werden, was es jetzt ist“. Ohne eine Versöhnung sei Frieden nicht möglich.
OB Simon Gröger lud in seiner Rede am Kriegerdenkmal zu einem Dialog für Frieden, Menschlichkeit und demokratisches Miteinander ein. Das Kriegsende markierte den Beginn einer neuen Ordnung, in der Frieden die Grundlage des Zusammenlebens werden konnte, sagte Gröger. Er sprach auch von dem unschätzbaren Geschenk, dass die Menschen in Deutschland 80 Jahre lang in Frieden leben konnten. Der Friede sei keine Selbstverständlichkeit, mahnte Gröger. Der Krieg in der Ukraine entwurzelte nicht nur Millionen Menschen und zerstörte zahllose Leben, sondern er erschütterte auch die europäische Sicherheitsordnung. Die Konflikte in der Welt würden zeigen, dass Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg bedeutet, sondern thematisch mit Toleranz, Gerechtigkeit und Mitgefühl verbunden sei. Friedensarbeit beginne nicht in fernen Ländern, appellierte er. „Sie beginnt in der Nachbarschaft, in den Schulen, auf den Straßen und in den Köpfen.“
Beispielhaft für Friedensarbeit könnte die Pädagogik in der Hausherrenschule sein. Denn wie man Konflikte zähmt, lernen die Schüler dort bereits ab der ersten Klasse, berichtete Tobias-Jonathan Rottmann, Gastgeber und Rektor der Hausherrenschule gegenüber dem SÜDKURIER. Ebenso würden ältere Schüler in den Pausen auf dem Schulhof als Streitschlichter eingesetzt. Auch gebe es ein Sozialkompetenztraining, damit die Schüler ohne Streit und ohne Hass zusammen leben können. Dass alle in einem Boot sitzen und jeder auf den anderen angewiesen ist, wurde im Stadtgarten beim Stand des Vereins für sozialpädagogisches Segeln deutlich. Konflikte innerhalb der Mannschaft mit unterschiedlicher Herkunft, Biografien und körperlicher Versehrtheit müssen hier überwunden sein, damit das Boot überhaupt ablegen kann. Jedem werde auf dem Boot eine Aufgabe nach seiner Fähigkeit zugeteilt, sagte Roswitha Dieterlen. Man lerne, ein Boot zu führen, das viele Hände benötigt und die Gemeinschaft stärkt. Damit würden Grundlagen für den Frieden gefördert.
Das Jugendcafé Connect bot ein Quiz mit Fragen aus dem Zweiten Weltkrieg an. Die Auseinandersetzung mit den Fragen leitete die Teilnehmer auch zu Themen der Gegenwart und – über die Hintertüre – auch der Demokratie, sagte Sozialpädagogin Leonie Wolpers. Der Leiter der Mettnau-Schule, Matthias Libruks, nahm das Thema Friedensfest in den Kunstunterricht auf. Der Stand der Mettnau-Schule konnte nur betreten werden, wenn man einen Friedenskreis aus bemalten Steinen überwand. Schüler hatten 200 Steinen mit Symbolen des Friedens oder Interpretationen von Meisterwerken der Maler Vincent van Gogh, Wassily Kandinsky, Joan Miró, Keith Haring und Bansky bemalt.