Die Hände und Arme sind mit roten Punkten übersät und wirken geschunden, dazwischen sind einzelne Kratzer und Narben zu erkennen. Der Ausschlag – das ist nur die Neurodermitis. Im Moment Annas geringstes Problem.
Die junge Frau Anfang zwanzig, die in der Öffentlichkeit anonym bleiben will und deren richtiger Name daher hier nicht genannt wird, hat mehrere Wochen auf Station 61 verbracht. „Im allgemeinen geht es mir definitiv sehr viel besser“, kann Anna inzwischen sagen. Sie fühle sich aufgehoben bei den Therapeuten und habe das Gefühl, vorwärts zu kommen.
Scheidung der Eltern, als Anna neun Monate alt ist
Dieses Gefühl fehlt vielen Borderline-Patienten über weite Strecken ihrer Krankheit. Anna hat schon in früher Kindheit auf vieles verzichtet, das in anderen Familien normal ist. Ihre Eltern lassen sich scheiden, als sie neun Monate alt ist. Im Alter von zehn Jahren zieht ihr Bruder aus. In der frühen Pubertät ficht sie heftige Kämpfe mit ihrer Mutter aus, sie sei auch geschlagen worden, berichtet die Patientin. „Irgendwann habe ich mich gewehrt und habe auch selbst angegriffen“, sagt sie.
Patienten stehen stets unter Spannung
Eine Grundanspannung, die oft in Streit oder sogar Gewalt eskaliert, sei typisch für die Borderline-Störung, erläutert Nadine Weber, die als Psychotherapeutin die Leitung auf Station 61 innehat. Das münde in häufige Wutausbrüche oder führe zu Selbstverletzungen. Fast alle Borderline-Patienten ritzen ihre Haut, ein selbstverletzendes Verhalten, das Spannungen abbaut.
Ursachen nach wie vor unklar
Die Ursachen von Borderline sind bis heute nicht abschließend erforscht. Die Medizin geht aber von einer Kombination aus genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen aus. Schwierige Erfahrungen in der Pubertät, die Trennung der Eltern, Mobbing oder Traumatisierungen könnten die Erkrankung auslösen, so Weber. „Im Fall der Patientin liegt eine doppelte Traumatisierung vor, durch die körperliche Gewalt und die emotionale Vernachlässigung“, sagt die Psychotherapeutin.
Die erste Therapie zur Schulzeit
Zur eigenen Mutter hat Anna bis heute ein zwiespältiges Verhältnis. Mit ihren Kindern sei ihre Mutter überfordert gewesen. Anna kommt bereits zu Schulzeiten in psychologische Behandlung, allerdings ambulant und wegen einer ADHS-Störung. Die Gespräche hätten ihr gut getan, sagt sie heute. Sie schließt die Realschule ab, absolviert ein Freiwilliges Soziales Jahr, beginnt eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich.
Nach der Schule wird das Leben instabil
Lange hält die Stabilität nicht an. Sie zieht aus, versucht, selbstständig zu leben, bricht dann die Ausbildung ab. Es folgt eine Phase der Arbeitslosigkeit, Anna besucht schließlich das Berufskolleg, lebt wieder bei der Mutter. „Mit dem Gefühl funktionieren zu müssen, kam ich nicht klar“, beschreibt sie ihre damalige Gefühlslage. Sie nimmt einen Aushilfsjob an, der ihr wenig später gekündigt worden sei. Das sei der Auslöser für eine Krise gewesen. Anna geht zum Hausarzt, der sie in eine psychosomatische Klinik einweist, zunächst mit der Diagnose Depression. Als sie später dort erneut behandelt wird, diagnostizieren die Ärzte Borderline.
Depressionen sind nur eines von mehreren Symptomen, an denen sich die Borderline-Störung zeigt. Ein weiteres sei die Störung der Identität, erläutert Oliver Müller, Chefarzt der Psychosomatik am ZfP. Die meisten Patienten hätten ein schlechtes Körperbild von sich selbst, Probleme mit Berührungen. Das kennt die 20-Jährige aus eigener Erfahrung: „Ich habe Angst, abgelehnt zu werden, passe mich sehr an andere an.“
Große Angst, verlassen zu werden
Das Streben nach Anpassung gehe einher mit einer großen Angst, verlassen zu werden, ergänzt Müller. Diese Erfahrung haben beinahe alle Patienten in der Kindheit gemacht, sie wollen verhindern, dass sich das wiederholt. Im Moment gelingt es Anna, eine funktionierende Beziehung zu ihrem Freund aufzubauen, so empfindet sie es selbst. Zumindest fühle sie sich nicht so stark abhängig von ihm, ihr Selbstwertgefühl habe sich durch die Beziehung verbessert. Mit ihm zusammen habe sie aufgehört, Cannabis zu konsumieren.
Schließlich zieht die Patientin ins Obdachlosenheim
Auch nach den zwei Klinikaufenthalten stabilisiert sich Annas Leben zunächst nicht. Nach dem zweiten Aufenthalt zieht sie mit einer anderen Patientin in eine Wohngemeinschaft. „Naja, das ging schief“, sagt sie und lächelt verlegen. Auch dieses Scheitern wirft sie aus der Bahn. Inzwischen wohnt die junge Frau in einem Obdachlosenheim eines Sozialverbands. „Die soziale Desintegration ist in diesem Krankheitsbild ungemein hoch. Deshalb ist es so wichtig, psycho-soziale Stabilität herzustellen“, sagt Chefarzt Müller.
Deutliche Besserung nach einigen Wochen im ZfP
Inzwischen kann Anna in reflektierter Form über ihre Borderline-Erkrankung sprechen, sie ist optimistischer als zuvor und will sich nicht mehr „auf die Straße werfen“. Ernsthafte Suizidgedanken habe sie aber nie gehabt, sagt sie, eine große Ausnahme unter Borderlinern, wie die Therapeuten versichern. Die Unruhe, die sie lebenslang begleitet, ist vorerst geringer geworden.
Für ihre Zukunft kann die junge Frau inzwischen klare Ziele formulieren. Sie möchte so bald wie möglich aus dem Obdachlosenheim ausziehen. Wie das funktionieren soll und wo sie leben wird, wisse sie nicht genau. Doch sie weiß jetzt, dass sie in lebenspraktischen Fragen Hilfe bekommen kann. Durch die Therapie fühlt sie sich stabiler und hat ein weiteres großes Ziel: „Ich will definitiv nächstes Jahr meine Ausbildung machen.“
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