Das Buch ist tot, es lebe das Buch. Es scheint, als habe die Entwicklung der "Erzählzeit ohne Grenzen" 2019 dem Trend zum Digitalen im Hegau und im benachbarten Kanton Schaffhausen ein Schnippchen geschlagen. Jedenfalls sprechen die Veranstalter von der erfolgreichsten Lesewoche seit Beginn des Festivals. 5200 Besucher haben die Leiterin der Singener Stadtbibliotheken, Monika Bieg, und ihre Schaffhauser Mitstreiterin, Alexandra Lampeter, grob überschlagen. Vorbei sind die Zeiten, als man sich kurz vor Beginn der Lesung gemütlich in die zweite Reihe setzen und in Wohnzimmeratmosphäre der Stimme eines Autors lauschen konnte. Nahezu jede Veranstaltung war lange vor Beginn vollkommen ausgebucht. Besucher mussten weggeschickt oder Stühle herangeschleppt werden. Auch das Sonntagsfrühstück mit dem Schweizer Buchpreisträger Peter Stamm und der Gitarristin Barbara Gräsle musste wegen der großen Nachfrage noch kurzfristig erweitert werden. Das freut nicht nur die Veranstalter, sondern auch die Initiatorin der Erzählzeit, die frühere Bibliotheksleiterin Barbara Grieshaber. Sie wundert und freut sich noch heute darüber, dass der Singener Gemeinderat die Förderung dieser Literaturwoche nie in Frage gestellt hat. Und Oberbürgermeister Bernd Häusler dankt den Sponsoren, ohne die das Angebot nicht möglich wäre.
Nahrung für Geist und Seele
Aber was treibt die Menschen heute in Scharen zu den Lesungen? Ist es die kostenlose Unterhaltung (bis auf die Abschlussveranstaltung ist der Eintritt überall frei)? Oder ist es die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer aussterbenden Kulturform? Das zumeist ältere Publikum mag sich an die eigene Kindheit erinnern, in der noch Geschichten vorgelesen oder erzählt wurden. Geschichten, die die Fantasie anregen, die das Gehirn trainieren. Gerade erst hat die Wochenzeitung "Die Zeit" in ihrem Dossier vom 28. März gewagte Hypothesen über den stetig sinkenden Intelligenzquotienten (IQ) der Weltbevölkerung veröffentlicht. Ein Grund könne die mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Ablenkung durch die digitale Reizüberflutung sein.
Erfolgsautor Peter Stamm in der Stadthalle
Für Monika Bieg ist das Vorlesen von Geschichten ein möglicher Gegenpol dazu und der Schweizer Autor Peter Stamm beim Sonntagsfrühstück ein Meister der subtilen Erzählung. Schlicht, klar und akzentfrei beschreibt er, wie sein Protagonist die eigene Geschichte mit zeitlichem Abstand erneut durchlebt. Der Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" (S. Fischer-Verlag) beschäftigt sich mit der Suche nach dem Selbst. Melancholie verbindet sich mit der Tatsache des Unabänderlichen. Jeder, der sich im Laufe seines Lebens die eigene Biografie anschaut, wird sich die Frage stellen, was er anders machen würde.
Bewährtes Konzept bleibt
Wie geht es weiter mit der Erzählzeit? "Wir werden trotz des großen Interesses an dem Format festhalten", sagt Alexandra Lampeter. "Das Prinzip der kleinen, besonderen Leseorte hat sich bewährt. Große Hallen eignen sich nicht dafür." In vielen Dörfern sind die Lesungen der kulturelle Höhepunkt des Jahres.
Drei Namen, ein Festival
Mit dem Umzug der Stadtbücherei im Jahr 1989 in die Singener Marktpassage hat alles begonnen. Der damalige Kulturamtsleiter Alfred Georg Frei und die ehemalige Leiterin der Bibliotheken, Barbara Grieshaber, wollten die neue Einrichtung mehr für die Singener Bürger öffnen und bekannt machen. Unter dem Motto "Lesezeichen" starteten sie eine Literaturwoche. Das zarte Pflänzchen wurde 1990 umbenannt und gedieh langsam unter dem Namen "Erzählzeit". Bereits 2003 bewarb sich die Stadt Singen dann um das bundesweit stattfindende Litarturfestival "Criminale" und erhielt den Zuschlag für die Ausrichtung im Jahr 2009. Um den Rahmen zu vergrößern, setzten die Singener den Fuß über die Grenze und holten die Nachbarn aus dem Kanton Schaffhausen mit ins Boot. Seither ist die "Erzählzeit ohne Grenzen" stetig gewachsen und erreichte in diesem Jahr mit 59 Veranstaltungen ihren bisherigen Höhepunkt. (gtr)