Sexuelle Befreiung, Exzess, Rockmusik: Drei Schlagwörter, die man instinktiv mit den Sechzigerjahren in Verbindung bringt. Wenn ein älterer Singener diesen Zeitgeist auf dem Stadtplan verorten müsste, würde er vermutlich auf das Gambrinus-Areal zeigen: Dorthin, wo heute B+B Parkhaus und Sport Müller stehen – wo früher aber jeden Abend eine Go-go-Tänzerin die Hüften kreisen ließ. Wo ein Gigs drei Mark kostete und der DJ das Sagen hatte. Die Rede ist vom Scotch-Club: Singens erster Diskothek. Als wir uns in der Redaktion vor einigen Monaten darauf einigen, dass sich die Sommerserie "Gedächtnis der Region" mit den Sechzigern auseinandersetzen soll, ist sofort klar: Das Tanzlokal muss Thema sein.

Also nehmen wir Kontakt zur damaligen Besitzerin auf. Erika Tuttas lebt in einem weiträumigen Anwesen in Rielasingen und ist inzwischen 79 Jahre alt. Aber wenn die Frau mit dem dichten blonden Haar bei einem Glas Sekt durch ihre Fotoalben blättert, beginnen ihre Augen zu leuchten. Ihre Haltung wird mit jeder Minute aufrechter, während sie von den Erlebnissen hinter und vor der 13 Meter langen Theke des Scotch-Clubs berichtet: Von Aurora, der "tanzenden Fleischwurst", von Damen-Boxkämpfen, Schaumpartys und Schlammschlachten auf der Tanzfläche.

Das vornehme Hochdeutsch, mit dem sie die unerhört leicht bekleideten Menschen auf den Fotos vor sich beschreibt, bildet einen herrlich schrägen Kontrast. Selten geht ein Interview so schnell vorbei. Das einzige Problem: Den Scotch-Club gab es in den Sechzigern gar nicht!
"Nein", sagt Erika Tuttas bei der Verabschiedung und schüttelt vergnügt den Kopf. "Wir haben das Lokal erst 1971 eröffnet." Bittere Neuigkeiten für einen Redakteur, der ein Schlaglicht auf das Singen der Sechzigerjahre richten soll. Sei's drum. Die Sommerserie ist beendet, der Herbst ist da. Jetzt muss Zeit sein, für Erika Tuttas und die Disko, die ihr jahrzehntelang den Schlaf geraubt hat. Und auch, wenn das Ehepaar Tuttas zu dieser Zeit noch nicht im Hegau lebte, irgendwie beginnt die Geschichte des Scotch-Club ja doch in den Sechzigern.
Kuppeln Verboten
1962, um genau zu sein. "Damals gab es noch das Verkupplungsgesetz", erinnert sich Erika Tuttas. "Als Frau war es verboten, den eigenen Freund bei sich auf dem Zimmer zu haben." Ein echtes Problem für Erika und Helmut, die sich einige Jahre zuvor in ihrer Heimat Recklinghausen beim Tanzen kennengelernt hatten. Er, früherer Oberkellner auf einem Kreuzfahrtschiff der Holland-Amerika-Line, hatte gerade als Ober am Konstanzer Konzil angeheuert. Sie war ihm an den Bodensee gefolgt und arbeitete bei Hertie. Zusammen wohnen durften sie nicht. "Wir mussten quasi heiraten", sagt Erika Tuttas und schmunzelt. Bedauert hat sie diese Entscheidung nicht.
Nachdem das Ehepaar arbeitsbedingt nach Österreich, an die Ostsee und später wieder zurück nach Süddeutschland gezogen war, schmiedeten Erika und Helmut Tuttas den Plan, sich selbstständig zu machen. Eine vage Vorstellung, die zum ersten Mal Formen annahm, als man in einer Immobilienzeitschrift auf eine leerstehende Gaststätte in Singen aufmerksam wurde. "Unsere Freunde von der Ostsee haben uns noch gewarnt: 'Geht da bloß nicht hin – das ist eine Industriestadt'", erinnert sich Erika Tuttas. Aber die Entscheidung war gefallen. Mit dem Vorhaben, ein Tanzlokal für Jugendliche zu eröffnen, zog das Paar vom Hochrhein in den Hegau.
Schnupfer und Teenager
Der Scotch-Club, mit seinen charakteristischen schottischen Mustern auf den Sitzpolstern wurde zur neuen Heimat – und Singens erste Disko schon in kurzer Zeit zur Spielwiese für fast alle Altersgruppen. Erika Tuttas erinnert sich daran, dass sich die Mitglieder des 1889 gegründeten Schnupfer-Vereins bei ihr genauso wohlfühlten wie die Jugendlichen, die sich sonntags zwischen 15 und 18 Uhr zum Tanztee verabredeten. "Gehen wir ins Scotch?", wurde zum geflügelten Wort bei Jung und Alt. "Mein Mann hat nicht nur Rock gespielt, sondern auch mal Walzer aufgelegt, wenn ihm danach war", sagt die 79-Jährige. "Und, wenn Schweizer kamen, immer 'Grüezi wohl, Frau Stirnimaa.'" Der Hit der Minstrels wurde oft gespielt, denn das Lokal war im Umland zunächst konkurrenzlos. "Sogar Piloten vom Zürcher Flughafen waren bei uns zu Gast", freut sich Erika Tuttas.
Andere Kunden bereiteten ihr mehr Kopfzerbrechen. "Ich wusste damals gar nicht, was ein Zuhälter ist", blickt Erika Tuttas zurück – bis sie die ersten zwielichtigen Gestalten dabei beobachtete, wie sie sich an die Tänzerinnen heranschlichen. "Wenn sie aufdringlich wurden, habe ich diese Typen eigenhändig rausgeschmissen – so etwas wie Türsteher gab es ja noch nicht." Aber meist herrschte in dem 500 Personen fassenden Saal gute Stimmung. Und als Anfang des Jahres ihr inzwischen verstorbener Mann beerdigt wurde, war Erika Tuttas gerührt zu sehen, wie viele der alten Gäste sich an die gemeinsamen Nächte, ihren Gatten und sie erinnerten.
Die gemeinsamen Erlebnisse verbinden. Schließlich hat der Scotch-Club für so manche Überraschung im Hegau gesorgt. Zum ersten Mal kamen die Disko-Könige von Boney M. in die Region. Auch die monatlichen Wahlen der Disko-Queen und die ersten Travestie-Shows im Scotch-Club waren Premierenveranstaltungen. "Das hat gezogen – unwahrscheinlich", sagt Erika Tuttas. Lachen muss sie, als sie sich an den dressierten Bären erinnert, den ein Dompteur dazu brachte, auf der Tanzfläche des Scotch-Club Walzer zu tanzen. "Wir hatten auch mal einen Puma, einen Tiger und einen Bernhardiner da."

Heute führt die Seniorin ein geruhsameres Leben. Wo sie nach langen Arbeitsnächten erst morgens den Weg ins Bett fand, legt sie sich inzwischen gerne schon früh am Abend schlafen. Aber so ganz trennen möchte sie sich von der Vergangenheit nicht. Und manchmal, wenn ihr danach ist, dann setzt sich Erika Tuttas auf die alten Holzstühle mit dem karierten Sitzpolster und denkt zurück an die goldenen Diskozeiten. Den Lärmpegel von damals muss sie dabei nicht mehr in Kauf nehmen: Heute stehen die Scotch-Club-Sitze in ihrem Wintergarten.
Das Gebäude
Das Gebäude des Scotch-Club prägte fast 100 Jahre lang das Gesicht des Gambrinus-Areals. 1907 ließ ein Gastwirt den Saal an das bestehende Gasthaus Gambrinus anbauen. In der Folgezeit wurde er als Kino- und Wirtssaal genutzt. Zwischenzeitlich etablierte sich der Name Scotch-Club, den das Ehepaar Tuttas beibehielt, als es sein Tanzlokal 1971 eröffnete. 1990 wurde der Scotch-Club im Zuge der Neugestaltung des Gambrinus-Areals abgerissen.