Udo Engelhardt ist ein Glücksfall. Als Kandidat für die Landtagswahl 2016 kann den Grünen nichts Besseres passieren. Der Mann ist im Wahlkreis Singen/Stockach vor allem wegen seines Engagements für die Tafel-Initiativen bekannt, seine Meinung wird auch bei den politischen Mitbewerbern geschätzt. Doch dann zieht Udo Engelhardt seine Kandidatur aus persönlichen Gründen zurück und die Partei muss auf die Schnelle einen Ersatz finden.

Ein schwieriges Unterfangen, denn vor vier Jahren rechnen sich die Grünen im Wahlkreis Singen/Stockach nicht wirklich eine Chance auf ein Mandat in Stuttgart aus – selbst nicht mit Udo Engelhardt. Wieso sich also bei derart geringer Aussicht auf Erfolg einem anstrengenden Wahlkampf aussetzen? Aber schließlich lässt sich mit Dorothea Wehinger doch noch ein Parteimitglied in die Pflicht nehmen: Politisches Engagement gehört im Leben der damals 63-Jährige zur Selbstverständlichkeit, wobei sie überwiegend an den kleinen kommunalpolitischen Rädchen dreht, und dann ist da auch noch die Verwandtschaft zu Winfried Kretschmann. Vom Ministerpräsidenten und Schwager von Dorothea Wehinger geht gewiss ein weiterer Impuls für die Bereitschaft zur Kandidatur aus.

„Ich bin bestimmt eher derjenige von uns beiden, der die Bereitschaft zum Anecken besitzt.“Mario Hüttenhofer
„Ich bin bestimmt eher derjenige von uns beiden, der die Bereitschaft zum Anecken besitzt.“Mario Hüttenhofer | Bild: Mario Hüttenhofer

Dann passiert das Unerwartete. Dorothea Wehinger wird gewählt und es ergeht ihr wie vielen Abgeordneten, die plötzlich in einer anderen Liga spielen. Es gibt Koalitions- und Fraktionszwänge, es geht um besonderen Gesetzmäßigkeiten zwischen Parlament und Ministerien oder Staatskanzleien, der Umgang mit den Medien ist ein anderer – und also fremdelt Dorothea Wehinger zu Beginn mit ihrer Rolle. „Man braucht Zeit um da reinzuwachsen“, räumt sie im Rückblick auf die ersten Jahre ein, was zugleich der Grund ist, dass sie dem Landtag eine weitere Wahlperiode angehören möchte. „Ich bin noch nicht am Ende“, sagt sie.

Mario Hüttenhofer will klare Kante

Dieses Ende will Mario Hüttenhofer jetzt einläuten. Der 52-Jährige bewirbt sich am 30. März in der Nominierungsveranstaltung der Grünen als Gegenkandidat von Dorothea Wehinger für die Landtagswahl im nächsten Jahr. Sein Beweggrund: Ihn stört der moderate Kurs von Winfried Kretschmann, der den Herausforderungen insbesondere bei der Eindämmung des Klimawandels, aber auch bei europa- und integrationspolitischen Themen nicht mehr gerecht werde. „Ich bekomme für meine Positionen viel Zuspruch“, sagt Mario Hüttenhofer. Den Rückhalt, den er bei seiner thematischen Gewichtung erhält, paart sich nach seiner Darstellung mit der Erfahrung persönlicher Wertschätzung. „Die Leute sagen mir: Du setzt die richtigen Themen und Du kannst das“ – also wirft er seinen Hut in den Ring.

Kretschmann- oder Habeck-Kurs?

Den Grünen im Wahlkreis Singen/Stockach steht damit eine richtungsweisende Entscheidung bevor. Mario Hüttendorfer hält die Landtagsfraktion seiner Partei durch die Regierungskoalition mit der CDU ausgebremst und plädiert dafür, „auch mal Tacheles zu reden“. Er verortet sich damit eher beim Grünen-Bundesvorsitzenden Robert Habeck als bei Winfried Kretschmann und würde im Zweifel einer Regierungskoalition (mit der CDU) die Rolle der Opposition vorziehen.

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„Radikal genug bleiben“ will er auch beim Politik-Transfer von unten nach oben – etwa bei der Umsetzung der Energiewende. So hält er im Landkreis Konstanz das Potenzial für die Nutzung der Windenergie für längst nicht ausgeschöpft, die Genehmigungsverfahren dazu seien aber „zu wenig schlank aufgestellt“.

Für Klarheit spricht sich Mario Hüttenhofer ferner in der Integrationspolitik aus. „Die Abschiebepraxis im Fall bereits integrierter Flüchtlinge muss aufhören“, sagt der Herausforderer von Dorothea Wehinger, wobei er darüber hinaus Baden-Württemberg eine Vorreiterrolle zutraut. Dazu gehöre die Akzeptanz, dass „uns die Migration dauerhaft beschäftigen wird und wir zum Beispiel durch Botschafts-Asyle den Zuzug kontrollieren und regulieren“.

„Ich war lange genug Opposition, jetzt geht es darum etwas zu erreichen und umzusetzen.“Dorothea Wehinger
„Ich war lange genug Opposition, jetzt geht es darum etwas zu erreichen und umzusetzen.“Dorothea Wehinger | Bild: Hfr

Mario Hüttenhofer baut seine Gegenkandidatur zu Dorothea Wehinger somit thematisch auf, sieht allerdings durchaus einen Zusammenhang mit dem persönlichen Politikansatz. „Ich bin bestimmt eher derjenige von uns beiden, der die Bereitschaft zum Anecken besitzt“ – und was diese Einschätzung anbelangt, so dürfte ihm die amtierende Abgeordnete zustimmen. Dorothea Wehinger jedenfalls verspürt wenig Neigung auf einen Konfrontationskurs mit dem Stil, den Winfried Kretschmann seit Beginn seiner Ministerpräsidentschaft im Jahr 2011 verfolgt. „Ich und die Grünen waren lange genug Opposition, jetzt geht es darum etwas zu erreichen und umzusetzen“, lautet ihr Credo. Das reiche nicht bis zum Verkauf von Grundpositionen, aber zur Demokratie gehöre der realistische Blick aufs Machbare und damit die Fähigkeit zum Kompromiss. Das wiederum sei ganz so wie früher bei ihr in der Familie: „Als sechstes Kind“, sagt sie, „musste ich einiges aushandeln.“

Konkurrenz für Amtsinhaberinnen

  • Die Kandidaten: Mario Hüttenhofer (52) hat in Konstanz studiert und arbeitete als Chemiker unter anderem in Düsseldorf, Mainz und Konstanz. Von 2012 bis 2018 wohnte er in Radolfzell, Ende 2018 zog er nach Singen um. Mario Hüttenhofer setzt sich schon länger bei den Grünen ein, im vergangenen Jahr kandidierte er für den Kreistag und den Gemeinderat Singen. Dorothea Wehinger (67) erreichte bei der Landtagswahl 2016 mit einem Stimmenanteil von 28,8 Prozent das Direktmandat im Wahlkreis Singen/Stockach. Sie ist ausgebildete Apothekenhelferin, erlernte ferner den Beruf der Erzieherin und arbeitete unter anderem als Kindergartenleiterin in Singen. Dorothea Wehinger gehört außerdem noch dem Kreistag Konstanz an.
  • Die Wahlkreise: Zu den Besonderheiten der Landtagswahl zählt die Aufteilung des Landkreises Konstanz in die Wahlkreise Konstanz/Radolfzell und Singen/Stockach. Im Wahlkreis Konstanz/Radolfzell haben sich die Mitglieder der Grünen-Mitglieder bereits für Nese Erikli entschieden, wobei die Parallelen zum Wahlkreis Singen/Stockach auffallen: Auch Nese Erikli, die wie Dorothea Wehinger seit 2016 dem Landtag angehört, musste sich gegen einen Mitbewerber durchsetzen. Ob Dorothea Wehinger oder Mario Hüttenhofer bei der Landtagswahl 2021 für die Grünen an den Start geht, entscheiden die Mitglieder am 30. März. Ort und Zeitpunkt stehen noch nicht fest.