Selten war eine Bundestagswahl zuletzt politisch so aufgeladen – und selten erlebt man das so direkt wie beim Wahlkampfbesuch von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz in der Singener Stadthalle. Im Saal wollten etwa 1500 Menschen hören, was der CDU-Bundesvorsitzende zu sagen hat. Vor der Halle gab es hingegen kritische Töne, etwa 420 Menschen demonstrierten auf dem Rathausplatz.
Die Kritik entzündete sich hauptsächlich an der Abstimmung im Bundestag vom Mittwoch, 29. Januar, wie auf den Plakaten deutlich wurde. Dabei hat die CDU/CSU nur mithilfe der AfD eine Mehrheit für ihren Fünf-Punkte-Plan zur Begrenzung der Migration erzielt.

In der Stadthalle war davon nichts zu spüren. Das Publikum bestand im Wesentlichen aus Freunden oder zumindest Sympathisanten der CDU. Zahlreiche Mitglieder sind dabei, auch eine Fangruppe der Jungen Union.
Merz drehte die Runde um zahlreiche Themen, versprach unter anderem Bürokratieabbau, forderte mehr Eifer für Arbeit, stellte neue Gaskraftwerke in Aussicht und versprach ein eigenes Digitalisierungsministerium. Die Bundestagsabstimmung vergangene Woche rechtfertigte er als „Klärung darüber, wer wo steht in Sachen Migration“. Und der AfD erteilte er eine klare Absage.
Den größten Applaus im Saal bekam Merz in diesem Punkt. Zuspruch gab es auch für wirtschaftspolitische Positionen, etwa dass man Firmen in Deutschland ein gutes Umfeld bieten müsse. Auch seine Forderung, dass Singen ans Wasserstoffkernnetz angeschlossen werden muss, erntete viel Applaus.
Bei manchem Besucher herrscht sogar Euphorie
Bei den CDU-Mitgliedern im Saal kam der Wahlkampf gut an. Martin Bosch aus Stockach etwa sagte, Merz sei sehr breit aufgestellt gewesen, für die Wahl sei er sehr zuversichtlich. Bei Mitgliedern der Jungen Union herrschte fast schon Euphorie. „Inhaltlich hat Friedrich Merz viele Themen abgedeckt, die Jung und Alt bewegen“, sagte Florian Auer aus Gottmadingen. Stefanie Heemann aus Konstanz meinte: „Merz hat eine Politik der Zukunft versprochen.“ Sie empfand es als angenehm, dass „auch Fehler zugegeben wurden“, etwa in der Asyl- und Wirtschaftspolitik.

Diesen Punkt hob auch Hugo Maier hervor, der für die CDU im Steißlinger Gemeinderat sitzt: „Merz hat nicht nur auf anderen herumgehauen, sondern auch eigene Fehler eingestanden“ – auch wenn vor allem die Grünen einige Spitzen abbekamen.

Der CDU-Kreisvorsitzende Levin Eisenmann sagte: „Es war im Saal streckenweise mucksmäuschenstill, das ist immer ein gutes Zeichen.“ Er gab aber auch zu, dass die Ereignisse im Bundestag in der vergangenen Woche den Kreisverband vor Herausforderungen stellen.
Und Veronika Netzhammer, die von 1996 bis 2011 als CDU-Abgeordnete im Stuttgarter Landtag saß, meinte: „Es ist wichtig, dass viele Menschen Merz mal als richtige Person erlebt haben, nicht nur in Zwei-Minuten-Ausschnitten.“ Im Bereich Migration gebe es Handlungsbedarf, „darüber muss man reden können“. Stichprobenartige Grenzkontrollen müssen möglich sein, so Netzhammer.

„Merz hat sich sehr gut verkauft“, lautete die Einschätzung von Franz Hirschle, CDU-Fraktionsvorsitzender im Singener Gemeinderat. Der Staat brauche mehr Einnahmen, und zwar durch Wachstum.

Für Unternehmer und Beschäftigte geht es um viel
Merz legte in seinem Vortrag einen Schwerpunkt auf die Wirtschaft. Für Unternehmer wie Thomas Conrady war das anschlussfähig. Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee ist selbst Mitglied der CDU und halte es für wichtig, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Merz habe mit seinen Botschaften aber auch die Beschäftigten angesprochen, nicht nur Unternehmer.

Einen besonderen Part hatte Ruth Frenk, Konzertsängerin aus Konstanz und Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee-Region. CDU-Landeschef Manuel Hagel sprach sie in seiner Verabschiedung direkt an und versicherte: „Alle Jüdinnen und Juden im Land haben uns immer fest an ihrer Seite.“ Das habe sie sehr gefreut, sagte Frenk nach der Veranstaltung. Da sie niederländische Staatsbürgerin sei, dürfe sie den Bundestag nicht mitwählen. Den Kurs der CDU in Migrationsfragen verteidige sie, auch wenn es sehr ungeschickt gemacht gewesen sei.
Demonstranten fordern: „Nazis ausmerzen“
So freundlich hörte sich das vor der Halle nicht an. Transparente mit Slogans wie „Nazis ausmerzen“ sind da zu sehen. Die Verärgerung reicht bis ins bürgerliche Lager. So reiht sich auch Renate Weißhaar, frühere Schulleiterin und heute stellvertretende Vorsitzende der Singener Bürgerstiftung, im Protestlager rund um die Partei Volt ein, dem sich auch die Linke angeschlossen hat.

Bei ihr stehen Bettina Biehler und Betina Münch. Sie sei kein Mitglied von Volt, wolle aber trotzdem ihre Meinung kundtun, sagt Münch. Und die lautete: „Das war letzte Woche ein sehr problematischer Akt für nix und wieder nix.“ Merz sei zwar Jurist, vertrete aber offenbar europarechtswidrige Positionen.
Das war auch der Tenor der anderen Teilnehmer, die etwa mit Plakaten „Kein Herz für Merz“ demonstrierten. „Wer mit der AfD zusammenarbeitet, ist unwählbar“, sagte eine andere Teilnehmerin.
Lars Hofmann, Bundestagswahlkandidat für die Linke, kritisierte den CDU-Spitzenkandidaten ebenfalls. „Friedrich Merz hat gezeigt, wohin sein politischer Weg geht. Für uns ist das keine Option“, sagte er. In seiner Rede machte er deutlich: „Es braucht Menschen, die den Rechtsstaat, die Demokratie und Menschlichkeit verteidigen. Nur so können wir langfristig dem Rechtspopulismus etwas entgegenhalten.“

Auch Bundestagskandidat Thorsten Otterbach hatte ab 18 Uhr zur Demo aufgerufen, um seinen Unmut über die Politik in Berlin zu zeigen und selbst Wahlkampf zu machen. Otterbach hatte 150 Teilnehmer angekündigt, laut Polizeiangaben beteiligten sich aber nur rund 20 Menschen.
Demos sind reibungslos verlaufen
Die Kundgebungen sind laut Polizei recht ruhig verlaufen. Es sei zwar im Freien vereinzelt zur Zündung von Feuerwerkskörpern gekommen, außerdem sei nach einer Beleidigung gegenüber einem Veranstaltungsteilnehmer in der Halle ein Platzverweis ausgesprochen worden. Laut Polizeisprecherin Tatjana Deggelmann sei die betreffende Person aber keiner der beiden Kundgebungen zuzuordnen. Ansonsten seien die Gegenversammlungen und die Wahlkampfveranstaltung in der Halle „reibungslos und ohne besondere Vorkommnisse“ verlaufen.