Die Opfer des Nationalsozialismus sollen nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb wurden in Singen jetzt sechs weitere Stolpersteine verlegt. Der Künstler Gunter Demnig aus Köln, der die bundesweite Aktion im Jahr 1996 ins Leben gerufen hat, war für die Verlegung wieder nach Singen gekommen. Mittlerweile erinnern in der Hohentwielstadt rund 80 Steine an 50 Orten an Menschen, die zu Opfern der Nationalsozialisten wurden.
„Heute ist eine ganz besondere Steineverlegung“, sagte Hans-Peter Storz als Sprecher der Initiative Stolpersteine in Singen. Zum einen sei es die erste Verlegung, die ohne Heinz Kapp stattfinde. Heinz Kapp war im Dezember 2019 verstorben und sei Zeit seines Lebens ein starker Verfechter für Toleranz und Demokratie gewesen, so Storz.
Außerdem würden diesmal nur Steine für sogenannte T4-Opfer verlegt. Diese Bezeichnung steht für ein Euthanasie-Programm der Nazis, bei dem in den Jahren 1940 und 1941 über 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen ermordet wurden. Diese Ermordungen waren damals von der Zentraldienststelle T4 beschlossen worden.
Oberbürgermeister Bernd Häusler nahm die sechs Steine zunächst symbolisch von Gunter Demnig entgegen, bevor der Künstler sie in die vorbereiteten Löcher setzte. Der Historiker Axel Huber hat sich eingehend mit den Schicksalen der Menschen beschäftigt, denen zu Ehren die Steine verlegt wurden.

Walter Hirt, der 1931 in der Marienstraße zur Welt kam, sei 1937 zum ersten Mal aktenkundig geworden, weil er offenbar ein unruhiges Kind gewesen sei, so Huber. Der Junge wurde nach Aufenthalten in verschieden Heilanstalten am 26. September 1940 in Grafeneck ermordet. Offiziell habe die Todesursache Diphterie gelautet. „Ich hatte auch Kontakt mit der Schwester von Walter Hirt. Sie wollte aber nicht zur Verlegung kommen, weil sie Angst habe, dass dann zu viel wieder hochkommen würde“, sagte Axel Huber. „Meine Urgroßmutter hat in der Marienstraße gelebt. Sie hat Walter Hirt vermutlich gekannt“, erinnerte sich Bernd Häusler.
An der Freiheitstraße 11 (wo heute die Tagesklinik ist) war die zweite Station. Dort lebte die Familie Schrott in einem großen Bauernhaus. Hier wird Julie Kempf geborene Schrott, Jahrgang 1891, gedacht, die 1940 ebenfalls in Grafeneck ermordet wurde. Sie war bereits ab 1924 immer wieder von Ärzten als „nervenkrank“ in Kliniken eingewiesen worden, hatte Axel Huber recherchiert. Hildegard Kresse hatte für Julie Kempf eine Rose dabei, die sie am Stein niederlegte. „Mein Großvater war der Bruder von Julie Kempf“, verriet sie.

Weitere Steine wurden schließlich in der Hauptstraße 8 für Karl Paul Dusel, in der Zinkengasse für Josef Gsell und in der Schlachthausstraße 9 für Anna und Emma Schäuble verlegt. Karl Paul Dusel (Jahrgang 1919) wurde am 25. Juli 1940 in Grafeneck ermordet. Josef Gsell (Jahrgang 1889) starb am 1. April 1940 ebenfalls in Grafeneck. Emma Schäuble (Jahrgang 1910) wurde am 28. März 1941 ermordet, während ihre Schwester Anna Schäuble (Jahrgang 1913) nach einer Zwangssterilisation am 13. November 1934 starb.
Im Rahmen eines Vortrags zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie“, den Axel Huber am Abend nach der Verlegung per Videokonferenz hielt, erfuhren 45 Zuhörer auch am Fall von Julie Kempf, wie mit Menschen damals umgegangen wurde. Huber fand heraus, dass auch Chefärzte wie Rudolf Antler (der erste Chefarzt des Singener Krankenhauses) oder der Gynäkologe Albert Kempf die Hände bei Zwangssterilisationen offenbar im Spiel hatten. „In Singen gab es damals mindestens 151 Fälle von Zwangssterilisation“, sagte Huber.

Dass man Behinderte auch später noch gern versteckt habe, weiß Hans-Peter Storz (Jahrgang 1960) aus seiner eigenen Kindheit. „Wir hatten in der Nachbarschaft eine Familie, die hat ihre behinderte Tochter 15 Jahre lang versteckt“, erzählte Storz. Glücklicherweise gebe es heute Initiativen, wie die „Pfadfinder trotz allem“ oder den daraus entstandenen BeTreff, die Behinderte voll ins Leben integrieren, bemerkte Storz am Rande.