Herr Kiefer, wie hat sich der Konsum von Suchtmitteln verändert?
Die neuen Daten zum Substanzkonsum junger Menschen sind durchaus ermutigend. So zeigt sich zum Beispiel, dass immer mehr Jugendliche bis zu ihrem 17. Lebensjahr noch nie geraucht haben. Auch der Konsum von Alkohol ist bei Jugendlichen rückläufig. Allerdings nimmt der Cannabiskonsum zu. Daher brauchen wir dringend beim Thema Cannabis wirksamere Präventionsmaßnahmen und diese so breitflächig, wie möglich.
Können Sie Zahlen nennen, um Ihre These zu belegen?
Die neuen Studienergebnisse der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) zeigen, dass aktuell 8,7 Prozent der zwölf- bis 17-jährigen Jugendlichen regelmäßig Alkohol trinken. Im Vergleich: 2004 waren das noch 21,2 Prozent. Auch bei jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren ist der Anteil deutlich gesunken. Die Raucherquote liegt stabil auf einem historischen Tief von 6,1 Prozent bei Jugendlichen und 29,8 Prozent bei jungen Erwachsenen. Im Jahr 2001 sprachen wir noch über 27,5 und 44,5 Prozent.
Worauf führen Sie das zurück?
Ein möglicher Grund für diese Entwicklung könnte die Pandemie sein, in der es weniger Anlässe gab, diese Suchtmittel zu konsumieren. Aber wir denken auch, dass die zunehmende Aufklärungsarbeit und verfügbaren Präventionsangebote greifen.
Und warum steigt Ihrer Meinung nach der Cannabiskonsum?
Es liegt an der guten Verfügbarkeit und Enttabuisierung. Cannabis braucht man nicht mehr heimlich irgendwo in dunklen Ecken kaufen, mit der Angst, von der Polizei erwischt zu werden, sondern ist über die sozialen Medien verfügbar. Zudem werden CBD-Produkte als Heilmittel beworben, was sie für Konsumenten legalisiert. Das Problem ist, dass die Aufklärung über Risikofaktoren fehlt.
Die da wären?
Die Hälfte der jungen Erwachsenen hat Erfahrung mit dem Konsum von Cannabis. Je früher Cannabis konsumiert wird, desto riskanter. Das Gehirn ist erst im Alter von 20 Jahren entwickelt und vorher ist es umso anfälliger für Schäden. Außerdem entsteht schnell eine psychische Abhängigkeit.
Manche jungen Menschen nehmen frei verfügbare CBD-Tropfen gegen beispielsweise Prüfungsangst.
Ja, da sehen wir, wie unsere Gesellschaft tickt. Statt mit einem langen Spaziergang oder Yoga zu entspannen, greift man zu der „schnellen Hilfe“, wie Tabletten oder Drogen. Hauptsache, man verlässt seine Komfortzone nicht. Die Risiken dürfen nicht kleingeredet werden und stehen im Übrigen auch nicht auf einem Beipackzettel.
Es ist etwas anderes, wenn Cannabis unter Aufsicht von Fachkräften und richtig dosiert genommen wird. Gerade wenn wir in Schulen gehen und mit Jugendlichen in Kontakt kommen, hören wir oft eindringliche Geschichten, wie von Psychosen, die nach dem Erstkonsum entstanden sind und dauerhaft blieben. Dieser Austausch ist auch für uns wichtig und hilfreich, denn er liefert Erfahrungen aus erster Hand.
Wo ist Präventionsarbeit sinnvoll?
Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen von Alkohol-, Tabak- und Cannabiskonsum sowie die Spiel- und Mediensucht gehören in jede Schule, in jeden Verein und auch in jede Familie. Wir müssen diese Themen öffentlich machen und enttabuisieren.

Erfreulich ist, dass uns zunehmend Firmen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements anfragen. Wir können die Menschen sensibilisieren und konkrete Vorschläge zu Alternativen machen. Zu Firmenjubiläen oder Abschieden kann man statt dem obligatorischen Sekt durchaus auch einen gut gebrannten Kaffee anbieten oder einen tollen alkoholfreien Cocktail.
Wie sollten sich Ihrer Meinung nach Eltern verhalten, wenn sie vermuten, dass ihr Kind ein Suchtproblem hat?
Das ist immer wieder ein großes und sehr wichtiges Thema, denn oft leiden Angehörige – egal, ob Eltern oder Partner – mehr unter einer Abhängigkeit, als die Betroffenen selbst. Die verbringen ja einen Teil der Zeit im Rausch. Essentiell ist eine offene Kommunikation und wie diese verläuft, hängt im Wesentlichen davon ab, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Jugendlichen bisher war.
Es ist gut, das Thema offen anzusprechen, mit Fragen, ohne Vorwürfe, ohne eine Diagnose zu stellen, sondern zu erzählen, was man beobachtet hat. Im Landkreis haben wir ein wirklich großes Angebot an Unterstützung, bieten Elternabende an Schulen an und sogar in Kindergärten zum Thema Medienkonsum. Und diejenigen, die bei uns Unterstützung suchen, kommen aus allen Schichten und sind aus allen Nationalitäten. Sich Hilfe zu suchen, ist keine Schande, sondern eine Chance.
Wir sind nun wenig auf die Spiel- und Mediensucht eingegangen. Was ist da das größte Risiko?
Diese Süchte haben während des Lockdowns zugenommen und wir verzeichnen eine hohe Rückfallquote während der Pandemie. In den ambulanten Therapien sehen wir immer wieder, dass diese Süchte viele psychosomatische Begleiterkrankungen mit sich bringen, wie Depressionen oder Ängste. Im Landkreis Konstanz arbeiten die Beratungsstellen eng mit der Tagesklinik des ZfP Reichenau zusammen. In der Regel ist es schwierig, kurzfristig einen ambulanten Therapieplatz zu bekommen. Wir sind daher froh, bei unseren Beratungsstellen innerhalb einer Woche zumindest einen Termin für ein Erstgespräch anbieten zu können, um Hilfesuchende zu stabilisieren, bis ein Therapieplatz frei wird.
In Singen gibt es seit nunmehr 20 Jahren „Aufwind“. Können Sie dieses Hilfsangebot mit wenigen Worten erklären?
Das durch Fördertöpfe und Spenden finanzierte Angebot richtet sich an Kinder, deren Elternteil – oder deren Eltern – ein Suchtproblem haben. Die Kinder kommen entweder über ihre Eltern, die bei uns in Beratung sind, oder über das Jugendamt in unsere Gruppen, in einen geschützten Raum. Wir sprechen über ihre Themen und verbringen Zeit miteinander.