„Ein Bier ist kein Bier.“ Es sind Sätze wie diese, die Lars Kiefer und Jana Klaiber die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Denn der Leiter und die Sozialarbeiterin bei der Fachstelle Sucht wissen: Etwa ein Drittel aller Frauen in Deutschland trinkt Alkohol in der Schwangerschaft. Nicht alle davon tun das bewusst, denn zum Teil wissen sie noch nicht, dass sie überhaupt schwanger sind. Doch ein Glas kann bereits fatale Folgen für das ungeborene Kind haben. Die Folge: Diese Kinder können mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) auf die Welt kommen- und diese ist nicht heilbar.
Wie entsteht FASD?
„Kinder, die an FASD erkranken, müssen nicht zwangsläufig eine alkoholkranke Mutter haben“, macht Jana Klaiber im Gespräch mit dem SÜDKURIR deutlich. Vielmehr reicht ein Glas Wein oder Bier in der Schwangerschaft. Denn trinkt eine werdende Mutter Alkohol, hat das Ungeborene binnen kürzester Zeit den gleichen Blutalkoholspiegel wie sie.

Die Folgen können dabei gravierend sein. Einen Schutzschild hat das Ungeborene nämlich nicht: Der Alkohol gelange direkt in die Plazenta und wirke sich dort unmittelbar schädigend auf die Entwicklung des Kindes aus. Laut Klaiber brauche das ungeborene Kind zehnmal länger, um den Alkohol abzubauen, als seine Mutter. „Die kindliche Leber ist noch unreif und es fehlen ihr dafür wichtige Enzyme“, sagt sie.

Die Folge ist verheerend: Das Ungeborene bleibe dadurch wesentlich länger alkoholisiert als die Mutter, macht Lars Kiefer deutlich. „Ungeborene haben im Mutterleib eigentlich keinen Alkoholfilter“, so Kiefer weiter. Oder anders formuliert: Laut den beiden Experten der Fachstelle Sucht sei Alkohol am schädlichsten für ein Ungeborenes.
Eine gemeine Erkrankung
Die Fetale Alkoholspektrumstörung wird in Fachkreisen und bei Experten oft als unsichtbare Behinderung bezeichnet. „Menschen mit FASD sind in jeder Schulform zu finden, es gibt sie auch in allen Bevölkerungsschichten“, sagt Lars Kiefer. Auch Jana Klaiber ordnet ein: „Die Fetale Alkoholspektrumstörung ist bei Neugeborenen die häufigste Behinderung in Deutschland, sogar noch vor Trisomie 21.“
Laut dem Verein FASD Deutschland liegt die Geburtenrate für Kinder mit FASD in der Bundesrepublik bei 177 je 10.000 Geburten. Schätzungen zufolge liegt die Dunkelziffer an erkrankten Kindern wesentlich höher. Denn FASD wird häufig etwa mit einem Aufmerksamkeitsdefizit verwechselt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unwissenheit der Eltern ist ein Faktor, ein weiterer fehlende Auffälligkeiten der Kinder. „Wir haben leider zu wenige Experten in Deutschland, die eine Erkrankung sicher diagnostizieren können“, kritisiert Klaiber.
Die Diagnose wird zum Puzzle
Ob ein Kind an FASD erkrankt ist, gleicht häufig einem Stochern im Dunkeln. Denn nicht allen FASD-Kindern ist ihre Krankheit anzusehen. Genau dieser Umstand mache eine Diagnose laut Jana Klaiber und Lars Kiefer auch so schwer. „Die Symptome müssen oft wie ein Puzzle zusammengefügt werden“, sagt Kiefer. Äußere Anzeichen gibt es, allerdings sind sie nicht immer zwingend: Minderwuchs, Untergewicht, Kleinköpfigkeit, Augenfehlbildungen, verminderte Intelligenz, geistige Behinderungen sowie geistige und motorische Entwicklungsstörungen sind nur einige davon. „Oftmals braucht es für eine entsprechende Diagnose auch die Eltern, die die Schwangerschaft Revue passieren lassen müssen“, sagt Kiefer.
Die Sozialarbeiterin von der Fachstelle Sucht macht deutlich: Mit FASD ist nicht zu spaßen. Warum? „Diese Krankheit ist unheilbar, irreparabel.“ Therapieansätze könnten die Symptome lediglich lindern. Zudem besteht bei Kindern mit FASD eine 30-prozentig höhere Wahrscheinlichkeit eines Suchtrisikos. „FASD bleibt für immer, das geht nicht einfach wieder weg“, so Kiefer weiter.
Ein Schnapszahl-Datum mit Wirkung
Der Tag des alkoholgeschädigten Kindes ist ein Datum mit Signalwirkung. Der erste FASD-Tag wurde am 9.9.1999 gefeiert. Dieser Tag wurde so gewählt, dass sich die Welt am neunten Tag des neunten Monats des Jahres daran erinnern wird, dass eine Frau in den neun Monaten der Schwangerschaft auf Alkohol verzichten sollte. Zudem ist es eine Schnapszahl.

Jana Klaiber und Lars Kiefer wollen den Tag nutzen, um auf die Gefahr von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aufmerksam zu machen. „Wir wollen nichts verteufeln und niemanden stigmatisieren“, betont Klaiber. Vielmehr wünsche sie sich, dass die Aufklärung über die Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft verstärkt wird. „Vielen ist nicht bewusst, was sie ihrem ungeborenen Kind antun. Ein Glas Bier kann eben bereits eines zu viel sein in einer Schwangerschaft“, so Klaiber. Oder um auf den Anfangssatz zurückzukehren: „Lieber kein Bier als ein Bier!“
Corona erschwer die Arbeit der Fachstelle
- Corona-Ängste führen oft zu Rückfällen: Die Corona-Pandemie macht auch vor suchtkranken Menschen nicht Halt. Im Gespräch betonen Lars Kiefer, Leiter der Fachstelle Sucht, und Sozialarbeiterin Jana Klaiber, dass Menschen mit einer Suchtproblematik in Krisenzeiten besonders gefährdet sind. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um Alkohol, illegale Drogen, Medikamente oder Glücksspiel handelt. So sei der Corona-bedingte Lockdown mit der Kontaktsperre für Menschen mit Suchtproblemen eine extrem große Belastung. „Einsamkeit, die Angst vor einer Corona-Infektion und Existenzängste führen zu Rückfällen. Dies ist eine enorm riskante Lebenssituation in dieser Zeit der Pandemie für Suchtmittel konsumierende Menschen und deren Umfeld. Die Suchthilfe ist da für viele ein Rettungsanker“, sagt Lars Kiefer.
- Kinder kämpfen mit Isolation: Auch die Selbsthilfegruppen würden laut Kiefer ihr Bestes tun, um sich gegenseitig zu stützen und Isolation zu überwinden. Das sei in der Pandemie allerdings oftmals nicht leicht. Denn ein Telefonat oder eine Skype-Schalte mildere zwar den Leidensdruck, ersetze aber nicht die persönliche Begegnung in der Gruppe. Große Sorgen machen sich die Fachkräfte auch um die Kinder, die in suchtbelasteten Familien leben. Die ohnehin schwierige Lebenssituation der Kinder verschärfe sich durch die Isolation erheblich bis hin zu traumatischen Situationen. „Überall wo es möglich ist, versuchen wir den Kontakt zu halten“, so Kiefer.
- Kein Ersatz für direkte Gespräche: Ein weiteres Problem, das Corona mit sich gebracht hat, sei die Vereinsamung und der Wegfall von sozialen und direkten Kontakten. Das bekommt auch die Fachstelle Sucht zu spüren. Ein Telefonat oder eine Skype-Schalte mildere laut Kiefer zwar den Leidensdruck, ersetze aber nicht die persönliche Begegnung in der Gruppe.
- Die Beratungsstelle: Die Fachstelle Sucht in Singen ist eine von über 20 Einrichtungen im Land, die zum Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation (BWLV) gehört. Der BWLV ist der größte gemeinnützige Träger der Suchtkrankenhilfe in Baden-Württemberg. Die Mitarbeiter sind tätig bei Problemen mit Alkohol, Medikamenten, Prävention, Gesundheitsförderung, Glücksspiel- und Mediensucht oder Raucherentwöhnung. In Singen findet sich die BWLV in der Julius-Bührer-Straße 4 im DAS 1, Telefon (077 31) 912 40 0, E-Mail: fs-singen@bw-lv.de Außerdem hat die Fachstelle eine Außenstelle in Radolfzell in der Schützenstraße 2, Telefon (077 32) 82 03 95 0.