Singen ist Klein-Amerika. Östlich des historischen Dorfkerns, wo sich heute das Rathaus befindet, entsteht zwischen 1890 und 1930 ein Quartier, das als Gründerzeit-Viertel bezeichnet wird. Seit dem Eisenbahnanschluss in den 1860er siedeln sich Industrieunternehmen in Singen an, anders als etwa in Konstanz ist deshalb keine Zeit für ein kontinuierliches Wachstum über Jahrhunderte. Es muss schnell gehen und da bietet sich ein Baufluchtenplan in Form eines rechtwinkligen Straßennetzes an – so wie man es von Städten in den USA kennt.

Der Grundriss und das Tempo der städtischen Entwicklung prägen bis heute das Selbstverständnis der Stadt: Aufbauen, abreißen, aufbauen – warum nicht? Doch es gibt Anzeichen einer Veränderung in dieser Grundhaltung. Beispiel dafür war die unerwartete, noch längst nicht beendete Diskussion um einen möglichen Abriss des Geburtshauses von Curth Georg Becker in der Scheffelstraße.

Das könnte Sie auch interessieren

Tilo Brügel von der Stadtplanung im Singener Rathaus dürften solche Debatten ins Konzept passen. Jüngst legte er im Gemeinderat den Entwurf einer Erhaltungssatzung für das Gründerzeit-Viertel vor. Diese Satzung ist geprägt von zwei Besonderheiten: Erstens sieht sie das Quartier als Gebäude-Ensemble an, bei dem nicht nur einzelne Gebäude wie etwa die auffälligen Eckhäuser an den Straßenkreuzungen des Geschäftsviertels unter Schutz gestellt werden sollen; und zweitens handelt es sich bei der angestrebten Erhaltungssatzung nicht um das verhältnismäßig strenge Regelwerk des Denkmalschutzes.

„Für die Eigentümer bedeutet die Erhaltungssatzung eine empfindliche Einschränkung.“Klaus Niederberger, CDU
„Für die Eigentümer bedeutet die Erhaltungssatzung eine empfindliche Einschränkung.“Klaus Niederberger, CDU | Bild: SK

Doch wo verläuft die Grenze zwischen Erhaltungssatzung und dem Denkmalschutz? Und welche Folgen ergeben sich für die Eigentümer der Gebäude? Klaus Niederberger (CDU) befürchtet empfindliche Einschränkungen bis hin zu Wertverlusten. So sei nicht klar, welche Veränderungen an der Bausubstanz vorgenommen werden können, und im vorgesehenen Vorkaufsrecht der Stadt sieht der Stadtrat die Gefahr einer Aushebelung der marktfreien Preisgestaltung. Am Ende könnte das zu Stillstand führen – und eben Beweglichkeit und Wachstumsstreben zählen zu den bislang prägenden Charakterzügen der Stadt.

Einführung des Denkmalschutzes über die Hintertür?

Isabelle Büren-Brauch von den Grünen neigt zur Sichtweise ihres Ratskollegen von der CDU, zumal sie rechtliche Vorbehalte sieht. Ihr ist nicht klar, was etwa unter einem Verkehrswert, zu dem die Stadt im Fall einer Nutzung des geplanten Vorkaufsrechts ein Gebäude erstehen könnte, zu verstehen ist. Der Grünen-Stadträtin erscheint der Entwurf der Erhaltungssatzung in der Rohfassung wie der Versuch einer Einführung des Denkmalschutzes über die Hintertür.

„Eine super Idee! Zu viele Gebäude sind bislang einfach nur platt gemacht worden.“Karin Leyhe-Schröpfer, Grüne
„Eine super Idee! Zu viele Gebäude sind bislang einfach nur platt gemacht worden.“Karin Leyhe-Schröpfer, Grüne | Bild: SK

Das ist laut Tilo Brügel nicht beabsichtigt. „Es geht nicht darum, Singen zu einem Museum zu machen“, warb er für sein Verständnis von Geschichtsbewusstsein, bei dem beispielsweise auch energetische Sanierungen erlaubt sein sollen. So versteht auch Karin Leyhe-Schröpfer (Grüne) die Erhaltungssatzung, mit der ihrer Auffassung nach nicht mehr im Stile frühere Tage „erhaltenswerte Gebäude einfach platt gemacht werden“.

Regina Brütsch (SPD) drückte das anders aus, meinte in der Zielrichtung das Gleiche. Sie begreift die Erhaltungssatzung als „stumpferes Instrument des Denkmalschutzes“, mit dem einer bedenkenlosen Abrisspolitik ein Riegel vorgeschoben werden könne. Im Übrigen bestehe für den Gemeinderat immer noch die Möglichkeit der Einzelfallentscheidung.

Weitere Diskussionsrunde

Aus etlichen Beiträgen von Stadträten ging allerdings hervor, dass die Meinungsfindung noch nicht abgeschlossen ist. Hans-Peter Stroppa (CDU) erging es dabei wie Oberbürgermeister Bernd Häusler. Sie wollen gerne eine genaue Auflistung der Gebäude, für die die Erhaltungssatzung gelten soll. Am 26. Mai wird erneut über die Erhaltungssatzung gesprochen.

Zielkonflikt von Geschichtsbewusstsein und Eigentumsrecht

Das Gründerzeit-Quartier: Im Entwurf der Erhaltungssatzung wird das Viertel im westlichen Bereich begrenzt von der Hauptstraße und reicht im Osten bis zur Höristraße, wobei ein Großteil der Gebäude beiderseits der Straße dem Quartier zugeschlagen werden. Im Süden bildet die Bahnhofstraße (inklusive des Bahnhofs) die Grenze. Im Norden endet der vorgesehene Einzugsbereich der Erhaltungssatzung an der Freiheitstraße, wobei einige Gebäude beiderseits der Straße dem Gründerzeit-Quartier zugerechnet werden.

Markante Gebäude: Dazu werden öffentliche Gebäude wie die Ekkehardrealschule oder Kirchen wie die Herz-Jesu-Kirche gerechnet, aber auch Villen sowie Wohn- und Geschäftsgebäude gelten als prägend für das Quartier. Beispielhaft in der Auflistung enthalten sind die sogenannten Arztvillen in der Erzbergerstraße 19 und Hauptstraße 25 oder das Gebäude der heutigen Volksbank. Als prägendes Beispiel wird ferner das Café Hanser mit seiner stilistischen Ausrichtung am Art Deco genannt.

Rechtliche Grundlage: Prinzipiell kann eine Stadt oder Kommune Gebiete gesondert zum Zweck ihrer Erhaltung ausweisen. Damit obliegt es dann den Gemeindeverwaltungen und den Gemeinderäten, ob ein Gebäude abgerissen oder beispielsweise Umbauten (etwa mit dem Ziel einer Neunutzung) vorgenommen werden dürfen. Die Genehmigung darf allerdings nur versagt werden, wenn „die Anlage allein oder im Zusammenhang mit anderen Anlagen das Bild prägt“.

Folgen für die Eigentümer: Im Grundsatz sind die aus einer Erhaltungssatzung resultierenden Einschränkungen für die Grundstückseigentümer entschädigungslos hinzunehmen. Sollten der vom Gebäudeeigentümer gewünschte Abriss oder die baulichen Veränderungen abgelehnt werden, kann er die Übernahme des Grundstücks verlangen – insbesondere wenn es ihm wirtschaftlich nicht zuzumuten ist, das Grundstück zu behalten. Eine höhere Ertragserwartung allein gilt dabei nicht als unzumutbar.