Wenn Judith Hertell einen Blick aus ihrem Fenster wirft, sieht sie viel Wiese, Wald und Winter. Was fehlt, ist eine Bushaltestelle. Bei der Schorenmühle in Mühlingen fährt nämlich kein Bus. Hier leben nur eine handvoll Menschen auf den sieben Höfen, die entlang der Landstraße liegen. Die nächste Bushaltestelle in Hecheln ist 3,2 Kilometer entfernt. Und wenn die sechsjährige Ella im September in die Schule kommt, müssen ihre Eltern sie bis zu dieser Haltestelle bringen. Judith Hertell fühlt sich abgeschnitten vom Nahverkehr. Und sie fragt: "Warum kann ich meinen Kindern nicht zeigen, wie sie mit dem Bus in die Schule kommen?" Damit steht sie exemplarisch für einige Höfe im Landkreis Konstanz, für die die nächste Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs in einiger Entfernung liegt – und für die der Anschluss an Infrastruktur im Allgemeinen ein Thema ist.

Der Schulweg ihrer Tochter beschäftigt Judith Hertell bereits seit dem vergangenen Sommer. Erst beantragte sie die Einrichtung einer Bedarfshaltestelle, dann wendete sie sich an den Bürgermeister. Doch statt einer Busverbindung wurde ihr Kilometergeld angeboten. "Ich möchte aber kein Geld, sondern dass mein Kind mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule kommt", sagt Hertell. Dass sie für den Besuch des Kindergartens selbst fahren muss, leuchte ihr ein, schließlich sei das keine Pflicht. "Ich fahre eigentlich ständig." Der Alltag funktioniere gut und man habe gelernt, sich zu organisieren. Doch bei Fahrten etwa für die Hobbys der Kinder könne sie auch mal Nein sagen, wenn es zu viel wird. Bei der Schule gehe das nicht.

Bild 1: Eine Idylle ohne Anschluss: Bei Familie Hertell fährt kein Schulbus

"Da werden wir nicht helfen können, so bedauerlich das ist im Einzelfall", sagt Mühlingens Bürgermeister Manfred Jüppner. Problem sind laut Nahverkehrsamtsleiter Ralf Bendl vom Landratsamt auch die Lenkzeiten, an die Busfahrer rechtlich gebunden sind. Jüppner schätzt die Zahl der Höfe um Mühlingen auf zehn Stück, ihm seien bisher aber keine weiteren Klagen bekannt. Man könne leider nicht jeden Winkel der Gemeinde anfahren, auch für Schwackenreute gebe es etwa keine Busverbindung. Und der Bus ab Hecheln sei bereits ein Fortschritt. "Ich sehe keine Möglichkeit, dass direkt ein kleiner Bus fährt", erklärt Jüppner. "Wir müssen es auch finanzieren können."

Nahverkehrsamtsleiter Ralf Bendl kann nur für das Jahr 2020 ein wenig Hoffnung machen: Weil zu diesem Termin der regionale Busverkehr neu vergeben wird und gleichzeitig ausgebaut werden soll, sei man derzeit im Kontakt mit den Gemeinden. "Das ist immer eine Einzelfallbetrachtung." Dabei zählen laut Bendl besonders zwei Kriterien: Wirtschaftlichkeit und Qualität. "Ein großer Umweg könnte dazu führen, dass andere Anschlüsse verpasst werden", sagt Bendl. Das sei nicht im Sinne anderer Nutzer. An der Schorenmühle sei noch nie ein Bus gefahren, sagt Judith Hertell, die auch Verständnis für die Gemeinde äußert. Früher hätten sich Fahrgemeinschaften gebildet oder die Kinder seien zu Fuß durch den Wald nach Zizenhausen gelaufen – etwa ihr Mann, der hier aufwuchs. Der Waldweg sei für ihre Töchter aber keine Option und für eine Fahrgemeinschaft fehlen noch die Mitstreiter: Sie seien nach vielen Jahren wieder die erste junge Familie auf den Höfen.

Schon bei anderen Themen wie Müll, Wasser, Schnee und Glasfaser seien teils enorme Aufwendungen nötig, um die Höfe anzubinden, sagt Bürgermeister Jüppner. Das Kabel für eine schnelle Internetverbindung liegt bei Hertells bereits fast vor der Haustüre, die Müllbehälter müssen sie nach eigenen Angaben vor einer Abholung aber stets den Berg hinaufschieben. "Wer auf einem Hof wohnt, hat sich auch für eine besondere Wohnlage entschieden", sagt Jüppner. Das ist Judith Hertell bewusst, die der Liebe wegen von Freiburg nach Mühlingen zog. "Es ist schon ein Stück Freiheit und die Kinder wachsen hier sehr behütet auf." Doch gerade im Winter seien sie teils noch mehr von der Außenwelt abgeschnitten. "Wenn es schneit, bleiben wir eigentlich alle zuhause", weil der Hügel zur Landstraße so steil sei. Doch als neulich der Hund ihrer Schwiegermutter krank war, versuchte diese mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Beim Streuen der Straße stürzte sie und es dauerte laut Hertell einige Stunden, bis sie gefunden wurde. Und als der Rettungswagen verständigt war, habe er sich schwer getan, die steile Straße bei Glatteis zu befahren.

Bild 2: Eine Idylle ohne Anschluss: Bei Familie Hertell fährt kein Schulbus

Hausgemachte Lösungen

Für Hertells war der Unfall ein Signal, selbst verstärkt tätig zu werden: Die Oma bekommt nun einen Drücknotruf, der ein GPS-Signal sendet und Helfer alarmiert. Außerdem hätten sie den Streudienst noch einmal persönlich gebeten, den kurzen Umweg über die Schorenmühle zu fahren. "Das ist eine Privatstraße", sagt Jüppner, und es sei ein Entgegenkommen, dass der Schneedienst ab und zu auch hier streue. Ein Umzug kommt für Hertells nicht in Frage: "Wir würden nie die Schwiegermutter alleine lassen."

Eine Lösung für Tochter Ella scheint vorerst gefunden, die Eltern denken über einen Schulbezirkswechsel nach: Statt nach Mühlingen ginge es dann nach Stockach. "Wenn wir uns eh darum kümmern müssen, nehmen wir die Schule, mit der wir das am besten handhaben können", sagt Hertell. Ihr Mann könne die Tochter dann auf dem Weg zur Arbeit absetzen. Das bedeutet für Tochter Ella aber auch, dass sie eine andere Schule besuchen wird als ihre Kindergartenfreunde. Hertell: "Wir haben beschlossen, dass wir offensichtlich ein 'Ausnahmefall' sind." Denn in einer Broschüre zum Schulanfang stehe deutlich, dass Kinder nur in Ausnahmefällen mit dem Auto zur Schule gefahren werden sollen.

Busverkehr

Der Schulverkehr wird von einer Gemeinde in Abstimmung mit dem Landratsamt Konstanz koordiniert: Die Gemeinde schafft Haltestellen und das Landratsamt bestellt entsprechend Busse. Die Kosten für die Schülerbeförderung werden laut Ralf Bendl, Leiter des Amts für Nahverkehr und Straßen beim Landratsamt Konstanz, für Grundschüler übernommen. Ab der weiterführenden Schule beziehungsweise fünften Klasse müssen Eltern einen Eigenbetrag leisten, dessen Höhe je nach Art der besuchten Schule unterschiedlich ausfällt. (isa)