Eckhard Stemmler ist 31, als er merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Beim Spazierengehen schlenkert er plötzlich hin und her. Er hat auf einmal Schwierigkeiten, sich zu orientieren, selbst in ihm bekannten Räumen. Wenn es dunkel ist, ist es besonders schlimm. Und irgendwann kann er seine Kaffeetasse nicht mehr halten.
Acht Jahre vergehen, bis Eckhard Stemmler eine Diagnose bekommt. Acht Jahre der Ungewissheit, der Verzweiflung. „Keiner hat etwas gefunden, es war extrem unbefriedigend“, erzählt der heute 65-Jährige.
Während Ärzte rätseln, was mit Stemmler los ist, verschlechtert sich sein Zustand immer weiter. Fußballspielen mit den Kindern? Fehlanzeige. Klettern, Fahrradfahren, Pilze sammeln? Die Hobbies gehören fortan der Vergangenheit an.

Besonders eine Situation hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt: Nach einem Freibadbesuch mit seiner Familie läuft Stemmler vor, um das Auto zu öffnen. Hinter sich hört er, wie jemand seine Frau fragt: „Wollen Sie den so fahren lassen?“ Man hält ihn für betrunken, dabei ist er krank.
1996 fällt die Diagnose: Ataxie. Genauer: Friedreich-Ataxie. „Damals hat kaum einer gewusst, was das war“, sagt Stemmler.
Unter Ataxie versteht man, so erklärt es die Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft „die mangelhafte Koordination von Bewegungen“.
Ursache dafür: Nervenzellen im Kleinhirn und Rückenmark werden beschädigt, was dazu führt, dass Bewegungen nicht koordiniert ausgeführt werden können. Der Intellekt ist dabei nicht betroffen. Eckhard Stemmler beschreibt es so: „Das Gehirn will zwar, aber die Leitung zu den Muskeln ist gestört.“
Die Störung zeigt sich beim Gehen, Stehen, Sprechen, bei der Augenbewegung und beim Schlucken.
Professor Ludger Schöls, Facharzt für Neurologie am Universitätsklinikum Tübingen, weiß um das Problem, dass viele Ataxie-Patienten aufgrund ihrer Symptome – sei es das Schwanken beim Gehen oder das Lallen beim Sprechen – „mit Trinkern verwechselt werden“. Und er weiß, wie schmerzhaft das für die Betroffenen ist: „Das trifft die Patienten ins Mark.“

Auch Eckhard Stemmler ist die Krankheit beim Sprechen anzumerken, die Worte klingen verwaschen, verstehen kann man ihn trotzdem. Das habe er sich „schon früh antrainiert“. Denn: „Ich musste im Job ja verstanden werden.“
Gearbeitet hat Stemmler, der seit knapp 15 Jahren in Seitingen-Oberflacht wohnt, als Entwickler bei einem Mobilfunkkonzern. „Mein Arbeitsbereich wurde so geändert, dass es ging“, erzählt er. „Am PC hatte ich keine Probleme.“
Und genau dorthin zieht sich Stemmler auch privat immer weiter zurück. Weg von der Realität, hin zum PC. Dorthin, wo er zurecht kommt, nicht aneckt, sich nicht rechtfertigen muss: „Je mehr Einschränkungen, desto mehr zieht man sich zurück.“ Die Folge: Die Ehe zerbricht.
Stemmler beschäftigt sich daraufhin intensiv mit seiner Krankheit, sucht den Kontakt zu anderen Betroffenen und besucht schließlich die Jahresversammlung der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft. Ein Besuch, der sein Leben noch einmal auf den Kopf stellen wird. Denn dort lernt er seine zukünftige Frau kennen: Antje Graf. Mit der er nun seit knapp zehn Jahren verheiratet ist.
Auch Antje Graf hat Ataxie. Zwar eine andere Form als ihr Mann aber: „Man weiß um die Probleme des anderen. Das macht vieles leichter.“
Die beiden leben in einer rollstuhlgerechten Wohnung und werden seit Juli von einer Betreuungskraft unterstützt. Beiden ist bewusst: „Besser wird es auf keinen Fall.“
Immer wieder stößt das Paar im Alltag an seine Grenzen. „Zwei Rollstuhlfahrer an einer Bushaltestelle? Da bekommt der Busfahrer die Krise“, sagt Stemmler.
„Behindert ist man nicht, behindert wird man.“Eckhard Stemmler
Und dann ist da die Sache mit den Rollstuhlparkplätzen. „Manche Leute denken einfach nicht darüber nach, was sie machen“, findet Stemmler. Dann stehe da ein „dicker SUV“ auf dem Behindertenparkplatz und der Besitzer entschuldige sich mit den Worten: „Ich wollte nur mal eben kurz...“
„Da ist noch jede Menge Luft nach oben für Rollstuhlfahrer“, sagt Stemmler. Und jede Menge mangelndes Verständnis, das es auszuräumen gilt.
Der Blick in die Zukunft? Eckhard Stemmler nennt ihn „bescheiden“. Und hat einen einfachen Wunsch: „Uns geht es darum, unser Leben so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung zu leben.“