Den 27. Januar 2025 wird Benjamin Boos wohl nie vergessen. Es ist ein schöner Tag in Can Pastilla an der Südküste Mallorcas. 16 Grad morgens um 10 Uhr, die Sonne scheint, gute Sicht – perfekte Bedingungen für den jungen Mann aus Steißlingen und seine Kollegen von der deutschen Bahnrad-Nationalmannschaft. Seit zehn Tagen ist das Team im Trainingsexil auf den Balearen, um dem deutschen Schmuddelwetter zu entfliehen, um sich bestens vorbereiten zu können auf die großen Aufgaben in dieser Saison.
Boos fährt in einer Sechsergruppe auf einer Landstraße in der Nähe des Flughafens von Palma. Eine knappe Viertelstunde ist das deutsche Team unterwegs. Die Laune ist bestens, alle haben „richtig Bock, auf dem Rad zu sitzen“, erinnert sich der 21-Jährige an die Sekunden vor dem Schock.
Boos unterhält sich gut gelaunt mit seinem Kollegen Max Briese, flachst mit dem gleichaltrigen Rostocker, mit dem er sich bestens versteht. Dann, urplötzlich ohne jede Vorwarnung, erfasst ein einheimischer Autofahrer die Gruppe mit seinem Auto. Er sei abgelenkt gewesen und habe die Radfahrer nicht gesehen, wird der 89-Jährige später den spanischen Polizeibeamten zu Protokoll geben.
Die Erinnerung ist noch da
Boos erinnert sich an alles, an jedes Detail – ohne Filmriss, ohne Lücken. An den Knall des Aufpralls, wie er in den Straßengraben geschleudert wird, dort benommen erst einmal regungslos liegen bleibt und wie er nach dem ersten Schock überprüft, ob er den Kopf, die Arme und die Beine noch bewegen kann.

Er erinnert sich an die riesige Erleichterung, als er feststellt, dass alles so weit noch funktioniert. Aber auch an den heftigen Schmerz im Rückenbereich, der dem jungen Sportler eindringlich signalisiert: Bleib liegen, rühr Dich nicht, warte, bis Hilfe da ist. Diese kommt relativ schnell in Person einer einheimischen Autofahrerin: Eine Krankenschwester – reiner Zufall, glückliche Fügung oder was auch immer – auf dem Weg zur Arbeit, die die Erstversorgung übernimmt, bis dann endlich der Rettungswagen eintrifft und die deutschen Sportler in zwei Krankenhäusern unterbringt.
Ungewissheit beim Vater
Benjamin Boos kommt ins Krankenhaus von Palma, wo erste Untersuchungen vorgenommen werden. Ungefähr zu der Zeit, als sein Vater telefonisch vom deutschen Verband über den Unfall informiert wird. „Diese Ungewissheit – so schrecklich!“, sagt Tobias Boos über seine Gefühlswelt nach der Nachricht. Etwas aufatmen kann er erst, als sein Sohn sich bei ihm meldet, erst einmal Entwarnung gibt, obwohl die Schmerzen im Rücken erahnen lassen, dass noch nicht alles ausgestanden ist.
OP am ersten Lendenwirbel
Zwei Tage nach dem Unfall wird Benjamin Boos, der bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr ist, nach Deutschland ausgeflogen. Das Ziel: die Uniklinik in Tübingen. Der Steißlinger wird operiert am ersten Lendenwirbel, der nach einem Trümmerbruch gerichtet und mit Stangen fixiert werden muss. Alles läuft gut, die Ärzte sind zufrieden, signalisieren, dass es das noch nicht war mit der hoffnungsvollen Karriere des jungen Radsportlers aus dem Hegau. Drei Monate muss Benjamin Boos sich aber nun schonen, muss seinem Körper Zeit geben, damit wieder alles gut zusammenwächst.
Und dann? Gleich wieder auf den Sattel steigen, wie im Volksmund gefordert wird, wenn man vom Pferd gefallen ist? Oder fährt in Zukunft immer die Angst mit, wenn Benjamin Boos auf der Straße trainiert? „Ich will so schnell wie möglich wieder aufs Rad“, sagt Boos. Zurückblicken? Nicht sein Ding. „Wieso der Unfall passiert ist, welche Schuld der Fahrer hat – all das interessiert mich im Moment überhaupt nicht“, meint er, „ich will das alles abhaken. Und falls ich doch Probleme haben sollte, gibt es bei uns in der Sportfördergruppe auch Psychologen, die da weiterhelfen können“.
Benjamin Boos schaut lieber nach vorne, auf die Ziele, die er hat. Darunter auch ein ganz großes: Olympische Spiele 2028 in Los Angeles. Die Chancen, bei den Sommerspielen für Deutschland an den Start gehen zu können, waren vor dem Unfall gut, nicht zuletzt dank der WM-Bronzemedaille in der Mannschaftsverfolgung im vergangenen Jahr. Und seine Chancen werden steigen, ist Benjamin Boos sicher, sobald er wieder trainieren kann.
„Das wird sicherlich ein schwerer Kampf für mich. Aber einer, denn ich gewinnen werde!“Benjamin Boos, Bahnradfahrer aus Steißlingen
Der langwierige Weg zurück wird aber nicht einfach werden für den Mann, der es gewohnt ist, gegen die Uhr zu kämpfen, schnell zu sein, in einem Sport, in dem es um Millisekunden geht. „Geduld“, sagt Benjamin Boos mit einem Lächeln, „ist nicht meine größte Stärke. Das wird sicherlich ein schwerer Kampf für mich. Aber einer, denn ich gewinnen werde!“