Es gibt diese Tage, die vergisst man sein Leben lang nicht. Der 22. Juli 2015 ist so ein Tag für Simon Geschke. Die 17. Etappe der Tour de France. Der damals 29-Jährige kämpft sich mutterseelenallein den Berg zur Skistation Pra-Loup in den französischen Alpen hinauf.

Auf dem letzten Stück der Strecke steckt ihm schon eine 50 Kilometer lange Solofahrt in den Beinen. Geschke, das Trikot weit offen, geht aus dem Sattel, streckt die Zunge heraus, während ihm hunderte Zuschauer am Straßenrand zujubeln. Dann ist es geschafft.

Als er über die Ziellinie fährt und seinen ersten Etappensieg beim größten Radrennen der Welt feiert, strahlt der Mann mit dem markanten Bart übers ganze Gesicht. Weil die Sterne richtig standen für ihn, habe an diesem Tag alles gepasst, wird er später weinend vor den TV-Kameras sagen. Frankreich und Simon Geschke – das passt einfach.

Das könnte Sie auch interessieren

Sieben Jahre nach diesem Triumph fließen bei Geschke wieder Tränen während der Tour im deutschen Nachbarland – zunächst vor Freude, dann aus Ärger. Auf der neunten Etappe übernimmt er im Juli 2022 die Führung der Bergwertung, die er in dem auffälligen Trikot mit den roten Punkten bis zur 18. Etappe verteidigt. So lange wie kein deutscher Fahrer vor ihm. Dann verliert er es quasi auf den letzten Metern noch an Gesamtsieger Jonas Vingeegaard. „Es war eine Riesenchance, hat aber leider nicht geklappt. Ich bin sehr stolz“, erinnert Geschke sich. „Aber es wird immer eine ganz, ganz große verpasste Chance bleiben.“

Der Riesentraum von der DM

Stichwort: Chance. Noch nie hat Simon Geschke, der unter den rund 200 Elitefahrern bei den Titelkämpfen im Schwarzwald zu den bekanntesten Gesichtern zählt, die Deutsche Straßenmeisterschaft gewonnen. Ein „Riesentraum“ sei der Gewinn dieses Titels, erklärt der Kletterspezialist bei einer Streckenbesichtigung im Mai. Der Kurs sei „sehr schwer. Er kommt mir klar entgegen als Fahrertyp“, fährt der Wahl-Freiburger fort, der auf den Straßen zwischen Donaueschingen und Bad Dürrheim ein gefühltes Heimspiel hat.

Vielleicht ein Vorteil bei einer der letzten DM-Chancen des 37-Jährigen, der seine Karriere Ende 2024 beenden will. „Der Titel wäre eine Riesensache, aber langsam läuft mir die Zeit davon“, sagt Geschke, der keine allzu großen Erwartungen hat. „Es wird sehr schwierig, im Finale bin ich oft auf mich allein gestellt“, erklärt der gebürtige Berliner, zu dessen Cofidis-Team in Max Walscheid nur ein weiterer deutscher Fahrer gehört, der ihn unterstützen könnte.

Simon Geschke hält den Goldenen Champions-Bären. Der Radrennfahrer ist als Berlins Sportler des Jahres 2022 ausgezeichnet worden.
Simon Geschke hält den Goldenen Champions-Bären. Der Radrennfahrer ist als Berlins Sportler des Jahres 2022 ausgezeichnet worden. | Bild: Annette Riedl

Fast so wichtig wie der sportliche Erfolg ist es, verletzungsfrei zu bleiben. „Die mentale Verfassung nach einem Sturz spielt schon eine große Rolle. Der Respekt fährt auf jeden Fall mit. Wenn es in einem Rennen sehr hektisch und schnell wird, fühle ich mich nicht so wohl. Manche können das besser ignorieren“, sagt Berlins Sportler des Jahres 2022 über die Schattenseite seines Berufs. „Die Gefahr ist leider ein Teil des Radsports. Risiken einzugehen, fällt mir nach jedem Sturz schwerer. Rennen fahren hilft auf jeden Fall.“

Auf die Anzahl seiner Verletzungen angesprochen, muss Simon Geschke kurz überlegen. „Die Knochenbrüche habe ich mir gemerkt“, sagt er dann und zählt auf: „Viermal Schlüsselbein, Mittelhand, Ellenbogen, die Rippen gleich mehrfach. Sieben Brüche sind es, wenn man die Rippen als einen zählt.“ Wenn auch nicht verletzt, so verpasste er 2021 ein potenzielles Highlight seiner sportlichen Laufbahn, als er sich nach der Anreise zu den Olympischen Spielen in Tokio mit Corona infizierte. Unvergessen die Videos, die Geschke aus dem Hotelzimmer postete. Wie er im Hausarrest trainierte. Oberkörperfrei mit dichtem Rauschebart.

Mit Rauschebart im Windkanal

Der ist längst zu seinem Markenzeichen geworden. Bei den Rennen dürfen im Koffer Bürste und Balsam nicht fehlen, mit denen der Radprofi seine Gesichtsbehaarung pflegt. Am Anfang habe er sich im Winter 2013 mehr aus Faulheit nicht rasiert. „Dann bin dabeigeblieben“, sagt Geschke und ergänzt lachend: „Irgendwann kam auch der Punkt, wo ich dachte: Wenn du ihn jetzt abmachst, erkennt dich keiner mehr.“

Ein außergewöhnliches modisches Accessoire in einer Szene, deren Protagonisten der perfekten Aerodynamik wegen mit glattrasierten Beinen im Sattel sitzen. Nachteile befürchtet der passionierte Gitarrenspieler aber keine. „Es ist zumindest nicht so, dass es bremst“, sagt Geschke. Der Vollbart sei sogar im Windtunnel getestet worden. Fazit: „Es macht so gut wie keinen Unterschied.“

Das könnte Sie auch interessieren

Seine größten Erfolge feierte Simon Geschke schließlich mit Bart bei der Tour de France. Noch mit glatten Wangen hatte er als Jugendlicher mit seinem Vater, dem ehemaligen Bahnrad-Weltmeister Jürgen Geschke, Ende der neunziger Jahre die Rennen in Frankreich vor dem TV verfolgt. „Damals war gerade der Boom um Jan Ullrich & Co. Das hat mich gepackt“, sagt Geschke.

Der Ehrgeiz war geweckt. Nun flimmert Simon Geschke selbst über die Bildschirme in der Heimat – wie er durch malerische Landschaften strampelt oder schier unbezwingbare Berge erklimmt. Auch in diesem Jahr wird der 37-Jährige wieder bei der Tour starten. Eine Woche zuvor kämpft er im Schwarzwald um das passende Outfit: das Hemd mit dem schwarz-rot-goldenen Brustring, das der Deutsche Meister tragen darf. „Das ist das Besondere an dieser Meisterschaft“, sagt Geschke, „man kann an einem einzigen Tag ein Trikot für das ganze Jahr gewinnen.“

Der 25. Juni 2023 wäre dann wieder einer dieser Tage, die der Kletterspezialist mit dem dichten Bart sein Leben lang nicht vergessen wird.